Der große Gatsby • F. Scott Fitzgerald

Der große Gatsby ist ein Klassiker, der so präsent ist, dass man nur sehr schwer um ihn herum kommt. Bei einem kleinen Aufruf für gute Klassikertipps in Twitter wurde dieses Buch auch mehrmals genannt und nachdem es schon auf meinem Stapel ungelesener Bücher war ist es diesmal ganz nach oben gewandert. Ich liebe Bücher, die in New York der 20er spielen. Irgendwie ist da so eine seltsame Pseudonostalgie, die diese Stadt und die Legenden, die darum ranken, zu einem idealen Ort für Abenteuer, aber auch zu einer spannenden Kulisse für menschliches Schaffen machen. Mit all den Versprechen, für die diese Stadt zu dieser Zeit stand.

Im Zentrum der Geschichte steht Jay Gatsby mit seiner tragischen Liebesgeschichte. Eingebettet ist sie in das dekadente Leben der 20er Jahre vor dem großen Crash. In eine Gesellschaft, die ordentlich aus den Vollen geschöpft hat. Fitzgerald zeigt recht geradlinig diese Zeit und ihre Menschen. Kritisch, mit einem sarkastischen, manchmal sogar einem seltsamen satirischen Stil. In eine Schublade kann man dieses Buch nur schwer stecken. Es ist fassettenreich und beschreibt nicht nur ausschließlich die Missstände dieser Zeit, nicht nur eine Liebesgeschichte und porträtiert nicht nur das Handeln der reichen Gesellschaft. Es ist eine Mischung aus all diesen Dingen und noch viel mehr. Manchmal poetisch, manchmal ganz realistisch, autobiographisch irgendwie aber auch immer neben der Spur.

Der Verzicht auf kritische Urteile enthält eine unendliche Hoffnung. (S. 10)

Wenn man einen 1000 Seiten Klassiker nimmt und so lange an dem Buch schüttelt, bis etwa 80% der Sätze herausgefallen sind, dann kommt man ungefähr zu einem Buch wie Der große Gatsby. Natürlich nicht wahllos, sondern durch ein Sieb, das nur die allernötigsten Informationen zurückhält, das mit viel Feingespür genau die Sätze, genau die Ausführungen behält, die nötig sind, dass in dem Leser ein intensiver Eindruck entsteht. Ganz punktuell beschreibt Fitzgerald Situationen, Handlungen und Gedanken und genau durch das, was er nicht schreibt, wird ganz viel von der Stimmung und den Gefühlen der Charakteren transportiert. Und ich glaube genau deshalb ist dieses Buch so berühmt geworden. Denn gerade wenn seine Protagonisten nicht sprechen, spürt der Leser instinktiv was unausgesprochen bleibt und was für eine Bedeutung darin liegt. Selbst die Personen beschreibt er nicht vollständig und so bleibt vieles der Phantasie des Lesers überlassen, der diese Lücken aber passend füllt, denn die wichtigen Eckpfeiler seiner Charaktere erscheinen dennoch ganz deutlich vor dem geistigen Auge. Und zwar zumeist durch das, was passiert, was sie machen, wie sie auf ihr Gegenüber reagieren.

Dieses Buch hat mich stark an Der Garten über dem Meer erinnert, das ebenfalls einen ganz impressionistischen Stil aufweist, ein pastellartiges Bild erzeugt und sehr viel mit seinen Zwischentönen transportiert. Irgendwie ist es nicht so richtig greifbar, diffus und trotzdem erkennt man die Stimmung und die Gefühle ganz deutlich. Als Leser erfährt man alles durch Nick, der seine Beobachtungen beschreibt. Die Gefühle, das was die eigentlichen Hauptfiguren der Liebesgeschichte bewegt, das bleibt im Schatten. Auch hier ähnelt das Buch sehr stark Der Garten über dem Meer, wo alles von dem Gärtner weitergegeben wurde. Aus meiner Sicht ist das aber auch gleichzeitig die große Schwäche. Natürlich ist die Geschichte raffiniert komponiert. Mit ihren Andeutungen, mit den Bonmots, mit diesen stereotypen aber sehr realistischen Figuren. Als Leser empfindet man schon nach wenig Seiten den Schwermut, der über Gatsby, und die träge Dekadenz, die über Daisy hängt, wie ein dunkler Schleier. Auch ein Gefühl dafür, wie die Ehe von Tom und Daisy aussieht, wie die Eheleute empfinden, wird auf ganz subtile Weise vermittelt. All das kommt beim Leser ganz deutlich an, ohne das diese Eindrücke deutlich formuliert oder hinaus geschrien werden. Aber trotzdem ist da immer eine Distanz. Man sieht die Darsteller, aber die Empathie stößt an ihre Grenzen. An die Grenze dessen, was durch Beobachtungen vermittelt werden kann.

Fitzgerald vermittelt in diesem Buch einen gewissen Realismus. Auch wenn er immer wieder übertreibt, nimmt man ihn diese Geschichte und die Charaktere ab. Damit hat er mich an Maupassant erinnert, der es auch immer geschafft hat, seinen Geschichten trotz überzogener Elemente in den Mantel der Authentizität zu hüllen. Und tatsächlich ist eine solche Geschichte möglich und in ihrem Rahmen sogar wahrscheinlich. So wie Maupassant habe ich auch ihm das Ganze abgenommen und die Frage, ob die Entscheidungen der Protagonisten plausibel sind für mich mit Ja beantwortet.

Werfe ich nun einen Blick auf das Buch zurück, dann ist diese Nostalgie, von der ich Eingangs geschrieben habe, nicht auf mich übergesprungen. Ob es die Orte dieser Geschichte waren, ob es die Menschen selbst oder die Stimmungen sind, nichts hat dieses klassische Bild von New York in mir zum Leben erweckt. Genauso wenig wie die Gefühle der Menschen zu mir in vollem Umfang durchdringen konnten, hat es auch der Charme von New York nicht geschafft. Auch wenn Fitzgerald an einigen Stellen sehr schöne Worte findet.

Über die große Brücke, wo das zwischen den Stahlträgern durchfallende Sonnenlicht ein ständiges Flackern auf den fahrenden Autos erzeugt, während sich auf der anderen Seite des Flusses die Stadt als Gebirge aus weißen Zuckerwürfeln erhebt, die alle durch bloßes Wünschen entstanden sind, aus völlig geruchlosem Geld. Wenn man sie von der Queensboro Bridge sieht, ist die Stadt immer so, als ob man sie zum ersten Mal sieht, als erstes wildes Versprechen der Geheimnisse und aller Schönheit der Welt. (S. 86)

Fazit: Der große Gatsby ist ganz sicher eine meisterhafte Komposition, die von dem lebt, was nicht geschrieben steht, die eine Geschichte aus dem erzeugt, was lückenhaft ist. Ob die Gefühle, Gedanken oder auch New York selbst, alles wird realistisch, impressionistisch, ungeschönt und ganz im Sinne dieser Zeit erzählt. Nick als Beobachter und Erzählender stellt aber zwischen den eigentlichen Hauptfiguren eine Distanz her, die mir die Gefühle zwar vermitteln konnte, es aber nicht geschafft hat, dass ich sie nachempfinde, dass sie in vollem Umfang zu mir durchgedrungen sind. Fitzgerald traue ich zu, dass dies so gewollt ist und nichts in dieser raffinierten Komposition dem Zufall überlassen wurde. Das Portrait der Menschen, ihres Schicksals und das Bild von New York konnten mich aber nicht begeistern und so wandert Der große Gatsby und seine Daisy bei mir wohl eher auf die hinteren Ränge der großen Klassiker.

Buchinformation: Der große Gatsby • F. Scott Fitzgerald • Deutscher Taschenbuch Verlag • 256 Seiten • ISBN 9783423139878

10 Kommentare

    1. Huhu Saskia,

      sehr schön, das ist das beste Lob, was man für eine Rezension bekommen kann 😉 Aber wie ich dich kenne, wäre es die zweite Lektüre von dem Buch oder?

      Liebe Grüße
      Tobi

    1. Lieber Norman,

      Fitzgerald ist erstmal auf die hinteren Ränge gewandert. Es gibt einfach zu viele Bücher, die sich einfach sehr verlockend anhören. Auf jeden Fall die großen Franzosen des 19. Jahrhunderts, die ich einfach allesamt liebe 😉

      „Öl“ hört sich auch echt spannend an. Es passt vor allem sehr gut zu unserer Zeit, immerhin lebt jetzt die ganze Welt den Vollgasraubtierkapitalismus. Aktueller könnte das Buch nicht sein.

      Liebe Grüße
      Tobi

  1. Hi Tobi :o)
    Selten habe ich eine so durchdachte und fast poetische Rezension lesen dürfen. Deinen Leseeindruck zu „Der große Gatsby“ lesen zu dürfen bereitet vermutlich mehr Freude als die Lektüre selbst! ♥ Ich habe mir „The Great Gatsby“ (allerdings die Anaconda-Ausgabe) damals gekauft, als die Verfilmung mit DiCaprio (schon gesehen?) in die Kinos kam… Leider schlummert er bis heute auf meinem SUB *schandeübermich*

    Ich bin sehr gespannt, welchen Klassiker du dir als nächstes vorknöpfst!
    Viele liebe Grüße,
    Nana

    1. Liebe Nana,

      vielen Dank für deine Worte, die mich echt sehr freuen. Die Verfilmung hab ich nicht gesehen und ich muss gestehen, dass ich eigentlich immer das Buch lese und so gar nicht der Filme Typ bin. Wobei ich mir das Buch gut als Film vorstellen kann, denn manche Szene hatte ich so plastisch vor Augen, dass man das echt gut darstellen könnte.

      Das Buch ist gar nicht so dick, also ganz gut als Zwischenlektüre geeignet.

      Liebe Grüße
      Tobi

  2. Liegt vielleicht auch an der neuen Übersetzung, die eher nicht gelungen scheint. Ich hab zwar nur in die Leseprobe reingeschaut, dann mit Original und Standardübersetzung verglichen. Ich bin mit der von Walter Schürenberg und natürlich dem Original „aufgewachsen“.
    In dieser Neuübersetzung wird auf Biegen undBrechen anders formuliert, was sicher nicht hilfreich ist, höchstens um ein „neues Produkt“ zu verkaufen. Es fängt mit der Widmung und sogar der Schreibweise von „D´Invilliers“ an, wo das große D zum kleinen wird. Später werden Aufzählungen in der Reihenfolge verdreht („Midas, Mäzenas und Morgan“ anstelle „Midas and Morgan and Maecenas“). Vielleicht ist diese Übersetzung hier und da werkgetreuer, viel schöner geschrieben ist sicherlich die von Schürenberg. Im Original taucht ein- oder zweimal das Wort „negro“ auf, das man sicherlich updaten dürfte.

    „It was the kind of voice that the ear follows up and down, as if each speech is
    an arrangement of notes that will never be played again.“

    „Sie hatte eine jener Stimmen, denen das Ohr so aufmerksam
    folgt, als wäre jeder Satz eine Melodie, die nie wieder
    gespielt werden wird.“

    „Diese Stimme war von der Art, daß man unwillkürlich mit dem Ohr Auf and Ab folgte, als sei jeder Satz
    eine Tonfolge, die so nie wieder erklingen würde.“ (Schürenberg, 1953)

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