Sehnsucht: Das geheime Tagebuch der Contessa Livia • Camillo Boito

Eigentlich lese ich die Verlagsvorschauen gerne und auch sobald sie erscheinen, aber dieses Buch ist mir irgendwie entgangen. Weder vom Titel, noch vom Autoren hat mir dieser Klassiker aus dem Jahre 1883 etwas gesagt, aber der Werbetext hat dann bei mir gezogen:

„Eine vergleichbare Frauenfigur findet sich kaum in der Literatur. Effi Briest und Anna Karenina sind Lämmlein gegen diese wölfische Italienerin.“

Klar, dass ich diese kurze Novelle haben und lesen musste, denn die Ehebrecherromane des 19. Jahrhunderts sind Premiumkost. Ich war also sehr gespannt, ob diese kurze Novelle hier mithalten kann. Ob das wirklich so ist, erfahrt ihr in den folgenden Zeilen.

Dieses Büchlein enthält eine einzige Novelle, die etwa 80 Seiten umfasst, wobei die Seiten nicht gerade üppig gefüllt sind. Eine kurze Kost, deren Lektüre nicht mehr als 45 Minuten in Anspruch nimmt. Perfekt als kleines Zwischenspiel für eine S-Bahnfahrt und ich mag so kurze Novellen recht gerne. Meistens fallen meine Bücher etwas umfangreicher aus, da ist so ein kurzes Büchlein eine angenehme Zerstreuung.

Die eigentliche Geschichte ist schnell umrissen. Die schöne Livia heiratet einen alten Mann, primär wegen der Stellung und dem Reichtum und steigt so in den Rang einer Contessa (vergleichbar mit einer Gräfin) auf. Wunderschön ist die Gute aber tatsächlich eine selbstbewusste und abgehobene Aristokratin, die sich aus Langeweile einen Liebhaber angelt. Sie dreht ordentlich auf und zieht hier ganz gut mit Emma Bovary mit. Der Erwählte erweist sich aber nicht als bester Wurf und so kommt es zum Eklat. Der toppt tatsächlich das, was bei Emma, Anna oder Effi am Ende heraus kommt. Die Italiener schalten da einfach nochmal einen Gang höher.

Die Novelle ist unterhaltsam geschrieben, liest sich flüssig und kommt mit schlichten Sätzen daher. Keine kunstvolle Sprache wie Flaubert, kein dicker Wälzer wie Tolstoi und auch nicht der Interpretationsspielraum wie bei Fontane. Eigentlich ein ziemlich klarer Stil. Die Erzählperspektive ist die Ich-Form, wobei der Text sich nicht wie ein Tagebuch liest, sondern einfach wie eine ganz normale Erzählung wirkt. Man erhält einen sehr guten Einblick in Livias Gedanken- und Gefühlswelt und ähnlich wie bei Flauberts Emma kann man sehr gut nachempfinden, wie sie sich nach einer Romanze sehnt und sich mit ihrem alten Ehemann langweilt. Betrachtet man aber Anna, Emma oder Effi, dann wohnte dem Handeln dieser drei Ehebrecherinnen immer eine ganz starke emotionale Komponente inne, Gefühle, die diese Frauen fortgerissen haben. So etwas habe ich bei Livia nicht entdeckt. Obwohl sie mit viel Leidenschaft dabei ist, hat man immer das Gefühl, dass trotz der Emotionalität bei ihr immer auch Kalkül dabei ist. Und das nimmt der Geschichte einen Teil ihres Reizes und auch ein wenig von der realistischen Wirkung, welche die anderen drei bekannten Romane auszeichnen.

Insgesamt ist es eine schöne Geschichte, die angenehm zu lesen ist, mich aber nicht begeistern konnte. Dazu ist sie einfach viel zu kurz. In 80 Seiten lässt sich einfach nicht die weit gefächerte Vielfalt der menschlichen Gedankenwelt entfalten. Tolstoi und Flaubert haben das wirklich sehr eindrucksvoll gemacht, da kann Boito nicht im Ansatz mithalten. Ein kleiner Geheimtipp ist das Buch allerdings schon, denn es ist ein guter Teaser dafür, was einen bei den berühmten Ehebrecherromanen erwartet.

Sehr spannend finde ich allerdings den zeitlichen Kontext. Die großen Romane mit den Ehebrecherinnen waren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sehr bekannte Bestseller und haben die Gesellschaft sehr bewegt. Dass mit diesem zentralen Sujet auch ein italienischer Autor mitgemischt hat, finde ich dahingehend bemerkenswert, dass diese Thematisierung die Emanzipation, und damit den Fortschritt durch die Aufklärung und die starken gesellschaftlichen Veränderungen nach der Revolution, ein europäischer Prozess war, der scheinbar alle Länder des Kontinents in irgendeiner Form berührt hat. Und wenn es einen nennenswerten Fortschritt in den zwei Jahrhunderten seit der französischen Revolution gibt, dann ist es die Emanzipation der Frau, die für mich neben dem Verständnis für ein auf ein freiheitliches Individuum ausgelegtes Gesellschaftssystem, eine der größten (leider regional begrenzten) Errungenschaften der Menschheitsgeschichte ist.

Camillo Boito war mir zuvor kein Begriff und scheinbar war die Literatur nicht sein Hauptfokus. Er hat zwei Novellenbände veröffentlicht. Im zweiten, Nuove storielle vane, ist diese Novelle Senso enthalten. Eigentlich war Boito Architekt und sein bekanntestes Bauwerk ist das vom berühmten Komponisten Verdi gestiftete Altenheim Casa di Riposo per Musicisti in Mailand, einem Altenheim für pensionierte Musiker.

Erwähnenswert ist auch der politische Kontext, in dem diese Novelle spielt. Während des Risorgimento, des italienischen Unabhängigkeitskrieges und die Gründung des Nationalstaates, ist die Geschichte in stürmische und kriegreiche Zeiten eingebetet, welche auch auf den Verlauf der Liebschaft einen Einfluss nimmt. Livia positioniert sich hier ganz deutlich auf der österreichischen Seite und insgesamt kommt weder sie, noch ihr Liebhaber gut weg. Insgesamt kümmern sich die Protagonisten nicht um das politische Reigen der großen Mächte und der Schwerpunkt liegt natürlich auf der Beziehung zwischen den Beiden. Dieser Hintergrund hat dem Buch aber eine lebhafte und sich echt anfühlenden Kulisse verliehen.

Fazit: Diese Novelle bietet eine angenehm zu lesende und unterhaltsame Geschichte, die leider viel zu kurz ist und in dieser knappen Form es leider nicht schafft, der gesamten Gefühls- und Gedankenwelt einer Liebenden gerecht zu werden. Sprachlich liest sich das Buch sehr flüssig und einen rasanten Roman mit eine Ehebrecherin aus der Feder eines italienischen Autoren des 19. Jahrhunderts ist neben den berühmten Romanen sicher ein Geheimtipp. Also kein Jahrhundertwerk, aber mir hats gefallen und mich gut unterhalten.

Buchinformation: Sehnsucht: Das geheime Tagebuch der Contessa Livia Novelle • Camillo Boito • dtv Verlag • 104 Seiten • ISBN 9783423281201

3 Kommentare

  1. Moin,

    dein neuer Blogeintrag wirft jetzt aber Fragen auf 🙂

    Ist eine kurze Novelle nicht ein Pleonasmus?

    Wieso gibt es zwei so unterschiedliche Bilder?

    Oder ist die rote Hardcoverversion einfach nur ohne Schutzumschlag?

    Und wenn dem so ist, seit wann macht der dtv Verlag Hardcover?

    //Huebi

    1. Lieber Huebi,

      eine kurze Novelle ist sozusagen doppelt gemoppelt, lässt aber keine Zweifel zu: Das Buch ist zu kurz 😉

      Das Buch ist tatsächlich Hardcover und das zweite Foto ist das Buch ohne Umschlag. Ich dachte auch immer, dass es im dtv Verlag nur Taschenbücher gibt, was ja der Name schon nahe legt. Ein paar Hardcover Bücher haben Sie aber schon im Angebot. Wenn du dir die Vorschau für den Herbst anschaust, dann sind da einige Hardcover zu finden.

      Herzliche Grüße
      Tobi

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