Nächtliche Wege • Gaito Gasdanow

Manche Autoren können durchgängig überzeugen und mich völlig in ihren Bann ziehen und zu dieser Kategorie gehört Gaito Gasdanow ohne Einschränkung. Sein Buch Das Phantom des Alexander Wolf ist ein wunderbarer Klassiker, der für mich zu den ganz großen Titeln der Weltliteratur zählt. Als ich dann nach weiteren Büchern von ihm gesucht habe, musste ich leider feststellen, dass es da im deutschsprachigen Raum nicht sehr viele gibt. Glücklicherweise hat es sich der Hanser Verlag auf die Fahnen geschrieben nach und nach diese Schätze zu heben und neu zu übersetzen. Als ich Nächtliche Wege auf der Webseite des Hanser Verlags entdeckt habe, war die Freude natürlich sehr groß. Ein Buch, dass nicht lange auf meinem Stapel ungelesener Bücher warten musste.

Gaito Gasdanow, 1903 in St. Petersburg geboren, trat mit knapp 16 Jahren als Soldat in die Weiße Armee ein. Nach deren Niederlage floh er 1923 vor den Bolschewiki mit zahlreichen anderen russischen Emigranten nach Paris. Dort ging er verschiedene Jobs nach, schlug sich mit Gelegenheitsarbeiten durch und war später viele Jahre als Nachttaxifahrer tätig. Nebenbei besuchte er an der Sorbonne Vorlesungen, besonders auch über Literatur. Alle Romane, die ich bisher von ihm gelesen habe, handeln von seiner eignen Vergangenheit, den Erlebnissen des Krieges, wie er in einem Panzerzug seinen Dienst als Soldat verbrachte, aber auch von seiner Zeit in Paris und wie er das Exil wahrgenommen hat. In Ein Abend bei Claire war der Krieg und seine Vergangenheit ein zentrales Thema.

In Nächtliche Wege beschreibt er seine Erlebnisse als Nachttaxifahrer, schildert das Nachtleben vom Paris der 30er Jahre, die Menschen denen er begegnet und Episoden aus ihrem und seinem eigenen Leben. Dabei hat der Roman keine klare Geschichte, sondern man lauscht seinen Erzählungen, zusammengesetzt aus den einzelnen Begegnungen und Beschreibungen der Menschen, die dem namenlose Protagonist begegnen und wie er sie wahrnimmt und einschätzt. Das verrät viel über den Ich-Erzähler, denn seine Eindrücke sind immer subjektiv und stark mit den Gefühlen und oft auch schwankenden Emotionen gefärbt. Wie Gasdanow erzählt, die Tiefgründigkeit seiner Gedanken, die innere Zerrissenheit und die Heimatlosigkeit sind Elemente, die immer wieder ganz stark im Fokus sind und darin ähneln sich alle seine Bücher. Mich packt dieser Stil sehr und diese geschmeidige, flüssige Sprache, diese Gedankengänge, die eigentlich nie zu Ende gedacht werden, die aber immer Rückschlüsse auf sein Gefühlsleben zulassen und die immer sehr tief gehen konnten mich sehr begeistern.

Der Leser lernt die verschiedensten Figuren aus dem nächtlichen Paris der Unterschicht und Halbwelt kennen. Prostituierte, Alkoholiker, Halbweltdamen, Taxifahrer oder Arbeiter, verschiedenste Vertreter eines sozialen Milieus, in dem Gasdanow gezwungenermaßen verkehren musste, werden hier eindrucksvoll, mit einer wunderbaren Sprache, mit philosophischen Betrachtungen dargestellt und immer ist der Ich-Erzähler ein Beobachter, der alles andere als neutral ist, aber dennoch nicht in die Geschicke der Menschen um sich herum eingreift. Die Heimatlosigkeit, die Sehnsucht und auch der Anstrich von aufkommenden Wahnsinn offenbaren in dem Erzähler einen entwurzelten, depressiven aber sehr intelligenten Menschen, der seine Umgebung mit viel Scharfsinn beobachtet und in diesem Buch perfekt zum Leben erweckt.

„Im nächtlichen Paris fühlte ich mich während der Arbeit tagaus, tagein wie ein Nüchterner unter Betrunkenen. Dieses ganze Leben war mir fremd und weckte in mir nichts als Ekel oder Mitleid, all diese Freunde von Nachtbars oder einschlägigen Etablissements, diese auf ihre Art Verliebten[…]die in ihrer Schamlosigkeit den Affen im Zoologischen Garten ähnelten – von alledem drehte sich einem der Magen um[…]“ (S. 239)

Das Buch ist sehr vielschichtig und transportiert auf einer Vielzahl von Ebenen Gedanken und Gefühle. Da ist das Paris und sein Nachtleben, die Menschen darin und deren Portraitierung. Die Übersetzerin Christian Körner sieht in Gasdanow Stil und dem Kontext seiner Geschichte deutliche Bezüge zu den Existenzialisten, allen voran zu Camus. Im Klappentext wird er gar als „russischer Camus“ bezeichnet. Der Zusammenhang ist nicht von der Hand zu weisen, denn die Frage nach dem Sinn des Lebens der einzelnen Existenzen, die Gasdanow hier beschreibt, stellt er sich nahezu immer. Und ebenso bleibt diese Frage auch immer offen und unbeantwortet, denn das zu bewerten liegt beim Leser und das habe ich als sehr gelungen und kunstvoll empfunden, denn das ist eine weitere Ebene, auf der man dieses Buch wahrnehmen kann. Damit verwoben ist die Gedankenwelt des Ich-Erzählers, die Erinnerungen und Einflüsse des Krieges und seiner Flucht, die seine Denkweise aber besonders seine Emotionen prägen. Die Sehnsucht nach der Heimat und ein beständiges Gefühl der Nostalgie schwingen immer mit und finden ihren Ausdruck in vielen kleinen Szenen und Begebenheiten. In der Musik, in der Person einer gestürzten Halbweltdame, in Erinnerungen und auch in den vielen russischen Emigranten, die ehemals Generäle und teilweise hochgestellte Persönlichkeiten waren. Gerade diese Vermengung der französischen Figuren des Nachtlebens mit dem sozialen Umfeld der russischen Emigranten erzeugt nochmal ein sehr subjektives Bild von Gasdanows Umfeld.

„Und gleichzeitig fiel mir meine alte Befürchtung wieder ein, die auf langer und trauriger Erfahrung fußte und im Wesentlichen auf den Gedanken hinauslief, dass dieses unheilvolle und elende Paris, durchschnitten von endlosen nächtlichen Wegen, bloß eine Fortsetzung meines fast immer halbwahnhaften Zustands war, in den zwar, seltsam und unverständlich genug, lebendige und existente Stücke eingefügt waren, aber umstellt von einer toten Architektur im Dunkeln, von Musik, die im wüsten und undurchdringlichen Raum erdröhnte, und von jenen menschlichen Masken, deren Falschheit und Scheinhaftigkeit vermutlich für alle offenkundig waren außer für mich.“ (S. 249)

Bei der Lektüre hatte ich immer das Gefühl, dass Gasdanow hier tatsächlich autobiografisch über sich selbst schreibt, was wahrscheinlich tatsächlich der Fall ist. Laut Nachwort gab es zu den meisten Figuren Menschen aus seinem Umfeld, die als Vorlage gedient haben. Zu echt fühlen sich die Gedanken, Emotionen und auch die Schlussfolgerungen an. Dabei ist er ein sehr sublimer Mensch der gegenüber den anderen Figuren aber doch unerwartet schroff ist. Eine seltsame Mischung und auf der einen Seite habe ich mir immer einen galanten, ruhigen und gebildeten Mann vorgestellt, der auf der anderen Seite aber sehr abweisender Natur ist.

Das Buch ist mit seinen 280 Seiten nicht gerade dick, aber dennoch habe ich für die Lektüre überdurchschnittlich lange gebraucht. Das lag an den oft langen, aber wunderschön geschriebenen Sätzen, die zu lesen ein purer Genuss ist. Das ist viel zu schade, um es schnell weg zu lesen, sondern man muss einfach die Worte in einem mäßigen Tempo durch den Verstand fließen lassen, denn es liegt eine Ruhe, eine starke Kraft und ein tiefer Ausdruck in ihnen, der durch den Kontext und dem Charakter des Autoren eine zweite Bedeutung bekommt. Ein bisschen ist das wie wenn man einer Melodie lauscht.

Mit dem Buch selbst zeigt der Hanser Verlag einmal mehr, dass sie es mit der Buchgestaltung einfach drauf haben. Mit dem dunkelblauen Schutzumschlag, den Autos der damaligen Zeit und den gedämpften Farben trifft es einfach wunderbar den Stil des Textes. Der Schutzumschlag ist kreisrund ausgeschnitten und gibt den Blick auf das Buch frei, das selbst in graugelblicher Farbe das Motiv des Umschlags fortführt. Sozusagen als Metapher dafür, dass Gasdanow hier einen Ausschnitt zeigt und sein Umfeld in diesem nächtlichen Milieu beleuchtet. Das ist wirklich sehr gelungen.

Das Buch liegt, wie die anderen Bücher von Gasdanow aus dem Hanser Verlag, gut in der Hand. Mir gefällt es sehr gut, auch wenn leider auf ein Lesebändchen und eine Fadenbindung verzichtet wurde.

Fazit: Nächtliche Wege ist ein wunderbares Buch das ganz typisch für den Stil von Gaito Gasdanow ist. Mit einem beständigen aber angenehmen Gefühl der Schwermut begleitet der Leser den Ich-Erzähler durch das soziale Milieu des Pariser Nachtlebens der 30er Jahre. Mit wunderbaren Sätzen beschreibt Gasdanow Episoden aus dem Leben von Arbeitern, Prostituierten, Taxifahrern bis hin zu verlorenen alkoholsüchtigen Existenzen, interpretiert was er sieht, beschreibt sein eigenes Gefühlsleben und portraitiert auf diese Weise einen Protagonisten, der intelligent und zugleich misanthropisch mit desillusionierter und vermeintlich neutraler Position auf eine verlorene Gesellschaft blickt. Eine faszinierende Lektüre, die ich auf jeden Fall mehrfach lesen werde, denn darin sind so viele Gedanken und Empfindungen, dass es unmöglich ist, sie beim einmaligen Lesen aufzunehmen. Die Ausgabe sieht wieder sehr schick aus, ist mit dem ausgeschnittenen Kreis ein Blickfang und passt hervorragend zur Stimmung der Geschichte. Dieses Buch ist definitiv einer der großen Knaller des Jahres und macht ein großartiges Werk eines ebenso großartigen Autoren dem deutschen Publikum endlich zugänglich.

Buchinformation: Nächtliche Wege • Gaito Gasdanow • Hanser Verlag • 288 Seiten • ISBN 9783446258112

2 Kommentare

  1. Ein wirklich vielschichtiges Buch. Unbedingt lesenswert! Danke für die Rezension, Evelin Brigitte Blauensteiner

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