Der Report der Magd • Margaret Atwood
Dieses Buch habe ich schon lange auf meiner Liste, mir aber mangels schöner Ausgabe nie geholt. Umso mehr habe ich mich gefreut, als ich dieses wunderschöne Buch bei der Büchergilde entdeckt habe. Meine Erwartung an Der Report der Magd war aber auch inhaltlich hoch, denn ich habe eine düstere dystopische Zukunftsvision mit sehr starker Aussagekraft erwartet. Ein Buch ganz in der Tradition von Orwells 1984 oder Huxleys Schöne neue Welt. Lest hier, warum ich dieses Buch zur Pflichtlektüre an Schulen machen würde und warum jeder, besonders jeder deutsche Bürger, dieses Buch unbedingt gelesen haben sollte.
In ruhigem Ton erzählt die Ich‑Erzählerin von ihrem Leben in einem Amerika der nahen Zukunft, das nach einem Putsch in einen religiös geprägten, totalitären Staat überführt wurde. Ihr Alltag ist streng reglementiert, ihre Erinnerungen an die Zeit davor wirken wie verbotene Fragmente eines früheren Selbst. Als Magd ist ihr eine einzige Aufgabe zugewiesen: Kinder zu gebären. Aus ihrer Perspektive öffnet sich dem Leser ein Blick auf eine Gesellschaft, die von festen Rollen, Kontrolle und einer allgegenwärtigen Angst geprägt ist.

Ich habe die Lektüre besonders zu Beginn als emotional anstrengend empfunden. Man taucht tief ein in den Alltag der Protagonistin und dieser ist einfach gekennzeichnet von Unfreiheit, von Fremdbestimmung und einer beständigen Angst. Als Magd ist sie für das Gebären zuständig und das Regime hat den Akt der Fortpflanzung zu einem völlig mechanischen und lieblosen Vorgang umgewandelt. Die Gesellschaft folgt autoritären Strukturen und es gibt eine permanente Überwachung. Frauen haben keinerlei Rechte und dieses Buch führt das ins Extrem. Es entsteht im Leser vollständig das Gefühl, wie man es auch bei 1984 oder Schöne neue Welt empfindet. Beklemmung, Abscheu und man fühlt einfach vollkommen mit Desfred, der Erzählerin, mit. Nach fünfzig Seiten Lektüre am Abend habe ich das dann schon gespürt, wie sich das auf mein Gemüt niedergeschlagen hat. Das ist einfach eine sehr bedrückende Stimmung.
Atwood hat das Buch hervorragend arrangiert. Man merkt, wie sie hier mit viel Feingefühl und dem Blick fürs Detail vorgegangen ist. Das Regime kontrolliert die Sprache, die Körper, die Fortpflanzung, den Zugang zu Wissen, den Alltag, sie regiert tief in das Leben der Menschen hinein. Desfreds Körper gehört der Gesellschaft und ihre zentrale Bestimmung ist es, Kinder zu bekommen. Das drückt sich auch in ihrer Kleidung aus, die sehr stilgebend für dieses Buch ist. Sie muss immer eine Art Haube tragen, die weiße Flügel hat und wie Scheuklappen wirken. Sie hat nur eine eingeschränkte Sicht und die Kommunikation ist durch diese Kleidung deutlich erschwert. Ihr Kleid ist rot, auffällig und stigmatisierend, es warnt andere Bürger und wirkt wie eine Uniform. Ihre Erscheinung isoliert sie und macht allen Bürgern klar, was ihre Rolle ist.

Den Wandel der Gesellschaft zu dieser Diktatur hin, die Strukturen, die permanente Machtausübung, die Überwachung und massive Einschränkung freier Kommunikation, all das fühlt man durch die Protagonistin. Dieses Fühlen ist genau die Wirkung, die dieses Buch auszeichnet. Als Leser kann man erleben, wie es sich anfühlt, in so einem totalitären Staat zu leben. Darüber hinaus hat Atwood hier so viele Dinge hineingepackt, so viel erwähnt, erklärt, angeschnitten, dargestellt, das jeder Mensch einfach wissen muss, denn nur so lässt sich die Freiheit auch erhalten. Beispielsweise sieht man in der Geschichte, wie wichtig Bargeld ist und was passiert, wenn es abgeschafft wird. Sie erwähnt das Experiment, das ein Verhaltensforscher mit Tauben ausgeführt hat und belegt, wie stark eine unvorhersehbare Belohnung das Verhalten beeinflussen kann. Das sogenannte „variable ratio reinforcement“, das dieser Tage massiv und sehr erfolgreich in Social Media eingesetzt wird und damit extrem viele Menschen manipuliert. Atwood zeigt, wie schädlich Religiosität ist und wie eine zweckmäßige Auslegung der Bibel die schlimmsten Verbrechen rechtfertigen kann. Ein bemerkenswertes Zitat zu diesem Thema, das genau dies zum Ausdruck bringt:
„Vielleicht geht es bei alledem gar nicht um Herrschaft und Macht. Vielleicht geht es gar nicht darum, wer wen besitzen kann, wer wem ungestraft etwas antun kann, bis hin zum Tod. Vielleicht geht es gar nicht darum, wer sitzen darf und wer knien muss oder stehen oder sich hinlegen, mit geöffneten Beinen. Vielleicht geht es darum, wer wem was antun kann und dafür Vergebung erlangt. Sage ja niemand, das liefe auf das Gleiche hinaus.“ (S. 183)
Es geht für sie nicht nur darum, dass ein Regime oder eine Gesellschaft Gewalt ausübt. Vielmehr ist das Empfinden dieser Menschen das Richtige zu tun, moralisch korrekt zu handeln, das eigentlich Verheerende.
Neben all dieser feinen Details und Anspielungen, neben all den treffenden und weisen Gedanken, die Atwood in das Buch gepackt hat, findet man auch gute Zitate und Textstellen, denen man einfach voll zustimmen kann.
„Wahrhaft erstaunlich, woran Menschen sich gewöhnen können, solange es ein paar Entschädigungen gibt.“ (S. 361)
Atwood hat das Buch wirklich fein ausgestaltet. Die verschiedenen Figuren repräsentieren auch verschiedene Menschentypen und wie sie mit einem stark repressiven System umgehen. Die Schicksale sind tragisch und alle nachvollziehbar. Zudem sind in dem Buch zahlreiche Bezüge zu Bibelstellen zu finden, die zum Teil auf bizarre Weise ihre Entsprechung in dem gesellschaftlichen System finden.

Die Protagonistin des Buches heißt Desfred. Das ist aber nicht ihr wirklicher Name. In dem patriarchalen System nehmen die Mägde die Namen des Hausherrn an, dem diese Frauen gehören. In dem Fall heißt der Hausherr Fred und damit ist ihr Name Desfred, also „sie gehört Fred“. Im Englischen ist der Name Offred, der dabei auch eine Doppelbedeutung hat. Das englische Wort „offered“ für „sich anbieten“, denn dazu wird sie gezwungen, wenn sie ihren Körper für das Gebären von Nachkommen der Gesellschaft anbieten muss. Ihr Name hört sich aber auch wie „off red“ an, eine Anspielung auf ihre rote Kleidung, welche durch ihren uniformen Charakter jegliche Identität auslöscht. Anscheinend hat die Autorin genau diese beiden Bedeutungsebenen mit dem Namen zum Ausdruck bringen wollen, um die Entmenschlichung auf einer weiteren Ebene verstärkt zum Ausdruck zu bringen. Im Deutschen geht das bei dem Namen Desfred leider etwas verloren.
Es gab zusätzlich Spekulationen von Lesern, wie Desfreds wirklicher Name ist, der nirgends verraten wird. Es gibt Spekulationen, dass dieser Name June sein könnte, da in einer Textstelle darüber geschrieben wird, wie die Frauen im Umerziehungslager ihre echten Namen geflüstert haben. Alle dort erwähnten Namen kommen dann für andere Figuren vor, nur „June“ nicht. Ich habe gelesen, dass Atwood das scheinbar nicht beabsichtigt hatte, es aber aus ihrer Sicht Sinn macht.

Der Epilog des Buches verwirrt erst einmal. Erst bei genauer Betrachtung offenbart sich, wie genial er ist. Das muss man einfach sagen. Was ich auch faszinierend finde, ist die Tatsache, dass nichts, was in dem Buch passiert, erfunden ist. Alle Mechanismen, Rituale, Unterdrückungsformen und Ideen haben historische Vorbilder. Die verschiedenen Spielarten der Repression, die Entrechtung der Frauen, versklavte Frauen, Zwangsgeburten, biblisch legitimierte Polygamie, Geburtsrituale, ritualisierte sexuelle Gewalt und vieles mehr wurde so schon in den verschiedensten Gesellschaften der Menschheitsgeschichte ausgelebt. Die Krone der Schöpfung.
„Täglich Brot habe ich ausreichend, deshalb möchte ich darauf keine Zeit verschwenden. Das ist nicht das Hauptproblem. Das Problem ist, es hinunterzuwürden, ohne daran zu ersticken.“ (S. 262)
Gerade in Deutschland hat dieses Buch eine Relevanz wie nie. In meiner Wahrnehmung haben extreme Positionen (in beide Richtungen) an Sichtbarkeit gewonnen und hinsichtlich Meinungsfreiheit empfinden viele Menschen eine spürbare Verschlechterung. Dieser Artikel fasst es ganz gut zusammen. Kritisches Hinterfragen und die Fähigkeit sich ausgewogen und weitgefächert zu informieren, scheint in Zeiten von Fake News, Social Media und KI schon sehr stark zu leiden. Der Report der Magd ist eines der Bücher, die aufrütteln, denn es erzeugt beim Leser Emotionen und transportiert, was es bedeutet, in so einem System zu leben.
Margaret Atwood, geboren am 18. November 1939 in Ottawa, zählt zu den einflussreichsten Schriftstellerinnen Kanadas und hat mit über fünfzig Büchern die internationale Literatur sehr stark geprägt. Die Liste an Auszeichnungen, die sie gewonnen hat und die Anzahl an Ehrentitel der verschiedensten Universitäten ist beeindruckend. Der Report der Magd hat Atwood zwischen 1984 und 1985 geschrieben (das Jahr 1984 ist sehr passend) und Atwood hat in dieser Zeit auch in West-Berlin gelebt. Definitiv eine Premium-Autorin, von der ich auch noch mehr Bücher lesen möchte. Zuletzt wurde Der Report der Magd auch als Serie veröffentlicht. Ich würde sagen, dass dieses Buch Kultstatus erreicht hat.

Wie ich oben erwähnt habe, ist meine Ausgabe sehr bibliophil. Das Buch hat eine offene Fadenheftung, was unglaublich selten ist, aber einfach hervorragend aussieht. Den Buchdeckel ziert die Form der weißen Flügel, was mittlerweile ein Erkennungszeichen der Geschichte geworden ist. Ein schwarzer Umschlag aus einem robusten Material umfasst das Buch und trägt Titel, Autorin und ein Zitat auf der Innenseite. Das Buch selbst ist mit den schwarzen Seiten und den schlicht verzierten Rändern einfach wunderbar auf die Geschichte abgestimmt. Die roten Fäden sehen auch einfach schick aus. Der Buchschnitt ist mit Titel und Autorin bedruckt. All das strahlt mit seiner nüchternen Gestaltung und den klar akzentuierten Formen die Kälte und Leere dieser repressiven Gesellschaft aus. Es ist ein Report und das findet man in dem, was das Buch optisch ausdrückt auch wieder. Die Ausstattung ist sehr bibliophil, einzig ein Lesebändchen fehlt, lässt sich bei der Art der Bindung aber vermutlich auch nur schwer integrieren. Ein wirklich rundum gelungenes, wunderschönes und stimmiges Buch.

Fazit: Der Report der Magd ist ein Meisterwerk. Es reiht sich nahtlos in die großen Dystopien 1984 und Schöne neue Welt ein und steht diesen Klassikern in nichts nach. Der Leser erlebt hautnah, wie es ist, in einem religiösen totalitären Staat zu leben, wie wichtig Freiheit und Gleichberechtigung sind und was mit einer Gesellschaft passieren kann, die den Verlust dieser zulässt. Atwood hat hier sehr viele Gedanken eingeflochten, viele Details perfekt ausgestaltet und zeichnet in einer angenehm lesbaren und feinen Sprache ein sehr authentisches emotionales Bild davon, wie es ist, in einem totalitären Regime zu leben. Für mich eine absolute Pflichtlektüre, denn die Freiheit ist keine Selbstverständlichkeit und gerade in unserer Gesellschaft ist das Bewusstsein dafür in den letzten Jahren sehr zurückgegangen. Bücher wie Der Report der Magd sind extrem wichtig. Lest dieses Buch.
Buchinformation: Der Report der Magd • Margaret Atwood • Büchergilde • 414 Seiten • ISBN 9783763276011

Vielen Dank für die Besprechung diesen wichtigen Buches! Ich kann nur zustimmen, das Buch sollte man gelesen haben – gerade jetzt.