69 Hotelzimmer • Michael Glawogger

Manchmal ist es eine Verkettung an Ereignissen und letzten Endes eine Laune, die mich zu einem Buch greifen lässt, das ich sonst nicht beachtet hätte. 69 Hotelzimmer von Michael Glawogger ist so ein Buch und im Nachhinein bin ich froh, dass ich es gelesen habe. Auf dieses Buch bin ich auf der Seite der Stiftung Buchkunst gestoßen, die diese Sammlung von Kurzgeschichten zum schönsten Buch 2015 gekürt hat. Erst Monate später, als ich nach der Lektüre von Guy de Maupassants Novellen noch richtig Lust auf Kurzgeschichten hatte, bin ich auf diese schöne Ausgabe gestoßen und konnte nicht mehr widerstehen. Ein Glück, denn 69 Hotelzimmer hat sich nicht nur optisch als herausragend erwiesen und darüber möchte ich heute ein wenig schreiben.

Der Klappentext hat bei mir schon zahlreiche Assoziationen geweckt. Es geht um 69 Hotels, um Geschichten, die in irgendeiner Form in einem Bezug zu einem Hotel stehen und das Gefühl des Reisens, des kurzen Innehalten auf einer Zwischenstation in der Fremde vermitteln sollen. Tatsächlich hat das Buch etwas mehr zu bieten. Es besteht nicht aus 69, sondern aus 96 Geschichten. Und auch das stimmt nicht, denn die Geschichte mit der Nummer 13 wurde weg gelassen, wie das auch in Hotels mit dem Zimmer Nummer 13 oft ist. Dabei hat jede Geschichte drei bis maximal fünf Seiten, also genau eine Zigarettenlänge, wie im Vorwort steht. Jede der kurzen Stories spielt an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit. Glawogger hat die unterschiedlichsten Länder und Städte, von Nigeria, Mexiko, Ukraine, Äthopien, Paris, Wien, Nordkorea, Südkorea bis hin zu Kambodscha oder Thailand als Hintergrund gewählt. Auch die Hotels sind höchst unterschiedlich. Vom Luxushotel, Stundenhotel, Motel, einer einfachen Absteige, einem edlen Hotel mit Blick auf eine Großstadt, bis hin zu einer dunklen Loch in Nigeria ist hier alles dabei.

69 Hotelzimmer von Michael Glawogger

Diese Vielfalt, aber auch die zum Teil wenig einladenden Orte haben mich zuerst überrascht. Liest man sich dann aber ein wenig Informationen zu dem Autoren durch, so erfährt man wieso. Michael Glawogger ist ein 1959 in Graz geborener Dokumentarfilmer, der mit seinen Dokus MegacitiesWorkingman’s Death und Whores’Glory eine gewisse Popularität gewonnen hat. Im April 2014 starb er in Folge einer nicht erkannten Malaria-Erkrankung in Liberia, während er in einem VW-Bus einmal um die Welt reisen und darüber eine Dokumentation drehen wollte. Glawogger war ein Abenteurer, scheinbar ziemlich rastlos und ist quer über die Welt, zu exotischen und auch gefährlichen Orten gereist. Glaubt man dem Nachwort, so war er kein Draufgänger, aber dennoch mutig und hat mit viel Beharrlichkeit seine Dokumentationen voran getrieben. Dieses Buch ist nach seinem Tod erschienen.

Der Inhalt, die Stimmung und Ausrichtung der einzelnen Geschichten ist ebenso unterschiedlich, wie die Orte, die Glawogger in seinem Leben besucht hat. Häufig gibt er eine Momentaufnahme, eine kurze Episode aus dem Leben eines Reisenden und vermittelt den kurzen Augenblick, den jeder kennt, der selbst auf Reisen war und in einem fremden Ort, in einem völlig neuen Hotel sich orientiert hat und plötzlich nicht mehr das große Ganze, sondern den Blick auf das Detail gerichtet hat. Die Stimmung, die von einem schmutzigen Hinterhof, die Ausstrahlung, die von Möbel und deren Arrangement ausgehen kann und nicht zuletzt den Begegnungen, die man in der Fremde hat. Das reicht von typischen Hotelsituationen, wie den Geräuschen einer Großstadt, die durch das Fenster herein schallen, oder wie das Reinigungspersonal durch die Zimmer fegt und alles sauber macht, bis hin zur Frage, ob über den Schreibtisch ein Spiegel gehört oder nicht.

„Es gab für ihn zwei Arten von Hotelzimmern: solche, die man durch die eigene Präsenz und Unruhe automatisch in Besitz nahm, und solche, in denen man sich das Territorium erst erarbeiten musste. In den einen lebte er aus dem Koffer, in die anderen zog er ein, als würde er in ein Zuhause kommen.“ (S. 125)

Sehr vielseitig sind die kurzen Episoden und häufig auch mit viel Tiefgang. Manchmal mit einer deutlichen gesellschaftlichen Kritik, in Richtung der bereisten Länder, aber auch der bekannten westlichen Welt. Manchmal wirken sie aber auch sehr persönlich und man gewinnt den Eindruck, dass einige der Momente und der Gedanken des Protagonisten die von Glawogger selbst sind. Sicher lässt sich das nicht sagen und für die Bedeutung ist das auch nicht relevant. Ich fand es sehr unterhaltsam den unterschiedlichen Gedankengängen, seine intelligenten Art zu erzählen und einer ganz kurzen Episode aus zum Teil sehr fremd anmutenden Umgebungen zu folgen. Die Protagonisten bleiben im Dunkeln und sind auf die einzelnen Begegnungen, die Momente im Hotel und dem kurzen Erzählstrang begrenzt. Häufig lässt sich ableiten, dass es sich um einen Handlungsreisenden, Rucksacktouristen, einem Geschäftsmann, Dokumentarfilmer, Journalisten oder Urlauber handelt. Aber auch das wird zumeist nur angedeutet.

Das Gefühl der Fremdheit und des Fremdseins, auch einer gewissen Rastlosigkeit ist an vielen Stellen auf mich übergesprungen. Einige Geschichten haben eine klare Aussage, andere hingegen erschienen mir seltsam und oft kommt ein völlig unsinnig wirkendes Ende zustande. Nicht jede Bedeutung hat sich mir erschlossen. Vielleicht weil mir der Ort fremd war, oder es sich um eine Situation handelt, die wohl sehr speziell ist und nur im Kontext einer gewissen Reiseerfahrung wirkt. Andere hingegen zeugen von einer hohen Einfühlsamkeit des Autoren und einer gewissen Beobachtungsgabe. Einiges wirkt eher willkürlich, skizzenhaft. Manches transportiert eine unterschwellige Botschaft und ein großer Knall bleibt zumeist aus. Auch komische oder ironische Szenen sind in diesem Buch zu finden.

In einer der Geschichten versucht beispielsweise ein Hotelbewohner kleine Dinge an die Folgegäste zu hinterlassen.  Und zwar so, dass es vom Reinigungspersonal nicht entfernt wird. In einer anderen, eher skurril anmutenden Erzählung, berichtet ein Mann davon, wie er auf Reisen schlafende Menschen ablichtet. Manche Stories haben eher etwas dokumentarisches und beschreiben Orte, beispielsweise das Vergnügungsviertel von Bangkok (Patpong) und die Eindrücke vom dortigen Rotlichtmilieu. Besonders gut haben mir die Geschichten gefallen, die typische Situationen in Hotels betrachtet haben. Ein Protagonist stört sich an dem Frühstücksbuffet und fragt sich, wer diese Vielfalt schon wirklich braucht, auch wenn die anderen Gäste sich ihre Teller aufladen. Dann folgt auf so eine eher komische Situation plötzlich eine Begegnung in der Ukraine, wo der Protagonist eine Hochzeitfeier beobachtet und sich dann alles in einer ganz schrägen Pointe auflöst.

69 Hotelzimmer von Michael Glawogger

In vielen der Geschichten findet man Glawogger, den Dokumentarfilmer wieder. Eine sehr experimentell anmutende Geschichte wechselt permanent von einem Menschen zum nächsten, wie eine Kamera, die sich in einem Fluss von einem zum anderen wendet, ohne an einer Stelle festzuhalten. Viele Geschichten haben auch einen Bezug zu seiner österreichischen Heimat und einige Situationen, beispielsweise im Kosovo, Mexiko oder der Ukraine, kann man sich nur schwer ausdenken. Da bin ich überzeugt, dass er über seine eigenen Erlebnisse schreibt.

Aber auch die sehr bildhafte Sprache, die Eindrücke, die so auch aus einer Dokumentation stammen könnten, zeigen sehr deutlich seinen Hintergrund.

„Er stand schon wieder im Dunkeln. Er ging auf den Balkon und rauchte eine Zigarette. Jeder Zug ließ die Glut und mit ihr sein Gesicht aufleuchten.“ (S. 68)

Er schreibt sehr angenehm und man kann seinen Gedanken und Sätzen gut folgen. Die schlichte Sprache, die klaren Bilder, die emotional gefärbten, stimmungsvollen Einzelszenen, die oft eine ganz klare Atmosphäre von den Hotels, den Orten und den Menschen geben, sind sehr gelungen.

„In diesem Moment ratterte ein langer Güterzug vorbei. Alles zitterte, dröhnte, staubte, ein Warnsignal pfiff über sie hinweg. Sie reagierte nicht, zuckte mit keiner Wimper. Er wollte sich zurückhalten und sie nicht unverwandt anstarren, konnte aber trotzdem nicht damit aufhören. Nicht, weil sie so schön gewesen wäre oder er sich zu ihr hingezogen gefühlt hätte. Es war nichts anderes als die Schönheit des Augenblicks. Die reine Oberfläche, an der alles perfekt war.“ (S. 315)

Glawogger ist ein Autor, der tatsächlich eine Menge zu sagen hat und er macht das wirklich sehr gut. Man merkt den Menschen hinter den Geschichten, der viele Gedanken hat, der zahlreiche Situationen erlebt hat, die wenig mit dem Alltag zu tun haben, welchem die meisten Menschen folgen.

„Aber mit einem Mal wusste er, dass er alle, die er kannte und liebte, daran teilhaben lassen wollte, was er jetzt fühlte: dieses Grün, dieser Wind, dieses Strahlen des Lichts und dieses Fremdsein. Gleichzeitig wusste er, dass das nie möglich sein würde, denn es war niemand da, mit dem er das teilen konnte. Und brächte er das nächste Mal jemanden von zu Hause mit, dann wäre es ja wieder anders. Wenn er von diesem Gefühl erzählt hätte, dann würde der andere danach suchen und es natürlich nicht finden, weil ja alles immer anders wird. Deswegen beschreibt jeder Reiseführer Orte, die es so nicht gibt. Deswegen sind Reiseführer immer Anleitungen zum Enttäuscht-Werden.“ (S. 185)

69 Hotelzimmer von Michael Glawogger

Einige Worte muss ich unbedingt zu der schönen Ausgabe im Verlag Die Andere Bibliothek verlieren. Denn das Buch ist optisch wirklich sehr gut gelungen und spiegelt den Inhalt perfekt wieder. Andreas Töpfer hat das Buch gestaltet und ausgestattet. Zu jedem Beginn einer neuen Geschichte ist groß, mittig, wie bei einem Hotelzimmer, die laufende Nummer platziert. Ein Farbverlauf und auch die kleine Ort und Zeitangabe am Rand der Seite wirken, wie ein Dokumentarfilm, bei dem diese Informationen eingeblendet und langsam wieder ausgeblendet werden. Ein Effekt, der mir sehr gut gefällt. Aber auch die Anordnung der Schrift auf dem Titel und selbst die Seitenzahlen sind sehr gut gewählt und verstärken genau die Stimmung, die auch sein Inhalt verströmt.

69 Hotelzimmer von Michael Glawogger

Auch die Farbgebung hat mir sehr gut gefallen. Leider ist meine Ausgabe aus dem neu aufgelegten Extradruck, die ohne dem schmucken Schuber auskommen müssen, der in der von der Stiftung Buchkunst ausgezeichneten Ausgabe zu sehen ist. Dennoch ist dieses Buch sehr schick und wertig und mit seinem 100g/m² Papier und der hochwertigen Fadenbindung sehr solide verarbeitet. Die Auszeichnung ist aus meiner Sicht völlig nachvollziehbar und verständlich.

Eine Frage die bleibt ist, wieso ein Buch, das 69 Hotelzimmer heißt 96 Geschichten hat (abzüglich der Nummer 13, also eigentlich 95 Geschichten). Die Antwort findet man natürlich in einer der Geschichten. Glawogger für seinen Teil mochte Filmszenen, in denen jemand eine Zimmertüre heftig zuschlug. So heftig, dass sich die angebrachten Nummern lockerten und lösten.

„Aber wozu Menschen imstande sind, sieht man sowieso nur in Filmen. Denn die Wirklichkeit mag ausgestattet sein – gecastet ist sie nicht. >>Früher<<, wollte er schon denken, >>waren die Filme …<<. Stattdessen dachte er an Mark Twain und daran, dass der Unterschied zwischen Realität und Fiktion heute genau der gleiche ist wie früher: Die Fiktion muss Sinn ergeben.“ (S. 339)

Fazit: Mit 69 Hotelzimmer hat Michael Glawogger eine vielseitige Sammlung von Kurzgeschichten verfasst, die sehr lesenswert ist. Er schafft es meisterhaft, mit dem Geschick eines Dokumentarfilmers, Momentaufnahmen zu erschaffen, die Atmosphäre des Reisens, der verschiedensten Orte und Hotels und der skurrilen, humorvollen, tiefgründigen und abenteuerlichen Momente zu vermitteln. Viele Geschichten konnten mich faszinieren, üben auf subtile Weise Kritik, stellen aber auch oft die Andersartigkeit von Orten dar, die so gar nicht im Fokus eines Urlaubsreisenden liegen. Besonders die kurzen Augenblicke des Innehaltens, der stillen Betrachtung eines Zimmers, eines Innenhofs, der vielen kleinen Details haben mich fasziniert. Das Gefühl der Fremde, des Verlorenseins, des Gestrandeten geben diesem Buch eine ganz individuelle Bedeutung. Andere Geschichten waren mir teilweise zu undurchsichtig und skurril, muten eher wie ein Entwurf an. Die von der Stiftung Buchkunst ausgezeichnete Ausgabe, die vom Die Andere Bibliothek Verlag veröffentlicht wurde, ist sehr schmuck und mit viel Liebe zum Detail umgesetzt und greift den Inhalt kunstvoll auf und verstärkt spürbar die Atmosphäre der Geschichten. Ein Buch, das ich inhaltlich, genauso wie von seiner Aufmachung uneingeschränkt empfehlen kann.

Buchinformation: 69 Hotelzimmer • Michael Glawogger • Die Andere Bibliothek • 408  Seiten • ISBN 9783847720102

4 Kommentare

    1. Lieber Jochen,

      ich glaub ich muss deinen Blog nochmal genauer durchforsten. Du hast ja auch einen ziemlich guten Geschmack!
      Gerne darfst du hier verlinken. Deine Rezension gefällt mir sehr gut und trifft das Buch wirklich hervorragend. Vielleicht täusche ich mich, aber für mich ist 69 Hotelzimmer ein echter Geheimtipp.

      Liebe Grüße
      Tobi

  1. Das liest sich aber sehr spannend und das Buch macht einen sehr guten Eindruck!
    Ich lese sehr gerne Reiseberichte und schreibe auch gerne eigene Reiseberichte in meinem Blog.
    Das Buch werde ich mir kaufen, danke für den Tipp!
    LG Volker

    1. Lieber Volker,

      so ein richtiger Reisebericht ist das ja nicht. Eher kurze Episoden. Was Reiseberichte angeht, liebe ich ja die Klassiker aus dem mare Verlag. Besonders empfehlenswert ist da „Die Reise mit der Snark“, die erst vor wenigen Tagen erschienen ist. Aber darüber blogge ich in Kürze noch.

      Auf jeden Fall klasse, wenn ich deinen Geschmack getroffen habe und Interesse für das wirklich gelungene Buch wecken konnte.

      Liebe Grüße
      Tobi

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