Zeitzuflucht • Georgi Gospodinov
Dieser Roman war eine Empfehlung und nachdem sich die Grundidee sehr spannend angehört hat, habe ich mir das Buch geholt. Der Autor Georgi Gospodinov ist aus Bulgarien und ich glaube ich habe noch nie ein Buch aus bulgarischer Feder gelesen. Umso gespannter war ich, was mich hier erwarten würde. Was für eine Idee ist das, mit der Zeitzuflucht und was würde dahinter stecken?
Der Erzähler des Buches trifft auf einen geheimnisvollen Mann namens Gaustín, der sich irgendwie in der Vergangenheit verloren hat. In Zürich eröffnet Gaustín eine Klinik für Menschen, die an Alzheimer erkrankt sind und über mehrere Stockwerke, bildet er Zimmer nach, die exakt einzelnen Jahrzehnten entsprechen. Beispielsweise mehrere Zimmer, die bis in die Details einer Wohnung aus den 60er Jahren gleichen. Dort werden an Alzheimer erkrankte Menschen untergebracht, deren Erinnerungsvermögen durch dieses Ambiente positiv gefördert wird und ihnen einen würdevollen Lebensabend ermöglichen soll. Gospodinov geht in dem Buch aber noch weiter und so wollen sich immer mehr Menschen, auch die, die nicht erkrankt sind, in der Vergangenheit verlieren und besuchen diese Kliniken. Die ganze Gesellschaft wird von diesem Bestreben erfasst, bis sich schließlich ganze Nationen dazu entscheiden, sich in die Vergangenheit zu flüchten.
Ich kann mich noch an das DDR Museum in Berlin erinnern, wo ebenfalls ein ganzes Wohnzimmer aus der damaligen Zeit nachgebildet wurde. Das ist schon sehr faszinierend und ich vermute, es rührt einen tatsächlich, wenn man darin zudem die eigene Vergangenheit wieder findet. An die vielen alltäglichen Details, die so ein Zimmer ausstrahlt und die Reminiszenzen, die das auslöst. An Alzheimer erkrankte Menschen verlieren oft zuerst ihre neueren Erinnerungen und nach und nach gehen, wie ein entgegengesetzter Zeitstrahl, auch immer ältere Erinnerungen verloren. Während die Kindheit zumeist am längsten erhalten bleibt. Die Vorstellung, mit einer Umgebung aus der Kindheit oder Jugend, ein Wohlbefinden bei den erkrankten Menschen zu erzeugen und ihre Orientierung zu fördern, hört sich also schon sehr plausibel an.
Gospodinov beschreibt diese Zimmer und auch Szenen aus der Vergangenheit wirklich sehr gut. Er erweckt diese verschwommenen, pastellfarbigen Bilder, diese Stimmung, die Augenblicke und fragmentartigen Eindrücke, die ich auch bei mir selbst immer wieder beobachtet habe. Und eigentlich ist es ein Buch über die Vergangenheit, welches das Vergessen, die Vergänglichkeit, das Erinnern, Nostalgie und die typisch menschlichen Gedanken zu diesem Thema sammelt und oft in sehr kleinteiligen Abschnitten aus sehr unterschiedlichen Richtungen beleuchtet. Das hat mir sehr gut gefallen. In dem Buch findet man wirklich sehr viele schöne Gedanken, in denen ich auch einige meiner Überlegungen zu dem Thema wiedergefunden habe. Da habe ich mir einige Zitate herausgeschrieben, weil sie einfach sehr treffend sind.
„Die Vergangenheit verbirgt sich in den Nachmittagen, dort verlangsamt sich die Zeit sichtbar, verschläft sich in den Ecken, blinzelt wie eine Katze gegen das Licht, das durch die dünnen Jalousien kommt. Es ist immer Nachmittag, wenn wir uns an etwas erinnern, oder zumindest ist es bei mir so. Alles hängt vom Licht ab.“
(S. 59)
Dieser essayistische Stil ist sehr kennzeichnend für das Buch und die Betrachtungen der Zeit und wie er sich der Vergänglichkeit nähert, ist sehr bemerkenswert. Hier merkt man auch, dass Gospodinov viel recherchiert hat und auch sehr viel in das Buch gepackt hat.
„Das Gedächtnis hält dich, lässt dich in den harten Konturen eines einzigen Menschen erstarren, den du nicht verlassen kannst. Das Vergessen kommt, um dich zu befreien.“
S. 302
Ich war neugierig, was von Gospodinovs bulgarischen Wurzeln zu finden ist und das ist in diesem Roman tatsächlich sehr viel. Vermutlich ist einiges in dem Buch sehr autobiographisch geprägt und so beschreibt er Szenen aus seinem Leben in Bulgarien und oft auch in der Stadt Sofia. Auch die weiterführenden politischen Geschehnisse des Buches sind primär in Bulgarien angesiedelt. Das ist natürlich naheliegend, da sich darüber am einfachsten schreiben lässt. So findet der Leser hier auch zahlreiche Anspielungen auf den politischen und historischen Hintergrund Bulgariens, besonders auch den von der Sowjetunion geprägten Einflüssen der Nachkriegszeit. Das ist sehr stimmig und auch interessant, wenn er beispielsweise über das Georgi-Dimitroff-Mausoleum schreibt, in dem der Leichnam des Politikers, ähnlich dem von Lenin, aufgebahrt wurde.
Die eigentliche Handlung ist sehr lose und der Plot ist nur schwach ausgeprägt. Es gibt eine Rahmenhandlung, aber der Fokus liegt auf die Betrachtung der Vergangenheit mit all ihren Facetten. Mir war das zu wenig und so habe ich weder zu dem Erzähler noch zu Gaustín irgendwie eine emotionale Bindung aufgebaut oder mich für die beiden Charaktere besonders interessiert. Ich finde das schade, denn die Handlung zieht einen Leser auch durch einen Roman und wenn diese dann zu schwach ist, dann geht dabei auch immer etwas verloren. Der Mensch erinnert sich einfach am besten an Dinge, die mit Emotionen erfüllt sind. Es war also kein Buch, das ich verschlungen habe oder in das ich besonders stark versunken wäre.
Sprachlich fand ich den Roman wenig bemerkenswert und die Sätze sind eher einfach gehalten und schlicht. Manche Passagen sind schön formuliert, das Buch ist aber sicherlich kein sprachliches Feuerwerk. Man merkt, dass der Autor Philologie studiert hat und so findet man einige Verweise auf literarisch bemerkenswerte Bücher, wobei er gerade Thomas Mann immer wieder erwähnt. Etwas aufdringlich und platt habe ich seine abgewandelte Form des berühmten ersten Satzes aus Tolstois Anna Karenina empfunden.
„Alle Geschichten, die stattgefunden haben, ähneln einander, jede Geschichte, die nicht stattgefunden hat, hat auf ihre eigene Art und Weise nicht stattgefunden.“
(S. 58)
Gegen Ende des Buches wird die Handlung immer loser, es soll vermutlich suggeriert werden, dass auch der Erzähler vergisst und sich in der Zeit verliert. Auch das fand ich aufgesetzt und erzwungen, ganz so, als würde Gospodinov dem Buch eine weitere Bedeutungsebene geben wollen. Gerade zum Ende hin, gelingt ihm das aber nicht.
In dem Roman ersinnt Gospodinov eine EU, in der schließlich die einzelnen Staaten in die Vergangenheit zurückkehren wollen. Jede Nation wählt ein Jahrzehnt über ein Referendum, in das es leben möchte. Es wird analysiert, welches Land in welche Zeit zurück möchte, das wird dann begründet und genauer betrachtet. Das fand ich sehr weit hergeholt und damit konnte mich der Autor so gar nicht überzeugen. Ebenso seine Begründungen. Ja, es ist als Gedankenexperiment gedacht, eingebettet in die essayistische Betrachtung der Vergänglichkeit, aber es ist doch so unrealistisch, dass es mir viel zu weit ging. Auch die Grundidee der Kliniken, mit den Zimmern für die Jahrzehnte, für eine bessere Behandlung der Demenzkranke, ist ja schon nicht plausibel. Zumindest für Deutschland wäre das völlig an den Haaren herbeigeholt. Wen interessieren denn hierzulande die Alten? Corona hat gezeigt, was die deutsche Gesellschaft von Kindern und alten Menschen hält: Nichts. In diesem Land ist ja zu dieser Zeit noch nicht einmal eine menschenwürdige Versorgung gesunder alter Menschen möglich, geschweige denn von an Alzheimer erkrankter alter Menschen. Da wäre eine solche Klinik, wie in dem Roman beschrieben, ja der absolute Luxus. Als einzelne Klinik in der Schweiz ist das Gedankenspiel realistisch, aber alles was darüber hinaus geht, das konnte mich so gar nicht überzeugen. Und ich vermute, so wie man in Deutschland die schwachen und jungen Menschen mit Füßen tritt, ist es in anderen EU Ländern nicht anders. Auch diese Tatsache nimmt dem schwachen Plot sehr viel.
Von der Gestaltung gefällt mir das Buch sehr gut. Das Bild auf dem Cover sieht einfach gut aus und auch die Typographie ist sehr gut gewählt. Mit dem Lesebändchen und der Farbgebung sieht es sehr ansprechend aus. Das eigentliche Buch ist mit dem schwarzen Einband und der normalen Klebebindung allerdings völlig durchschnittlich.
Fazit: Die Idee von Zeitzuflucht ist ausgefallen und faszinierend. Eine Klinik mit Zimmern, die exakt einzelnen Jahrzehnten entsprungen sein könnten und die ein Zufluchtsort sind, für Kranke, aber auch sehnsuchtsvolle Menschen, das ist einfach eine außergewöhnliche Idee. Gospodinov packt in dieses Buch sehr viele spannende Gedanken zum Thema Vergänglichkeit, Vergangenheit, Zeit, Vergessen, Erinnerungen und Nostalgie. Stellenweise erinnern es eher an ein Essay und die eigentliche Rahmenhandlung ist nur schwach ausgeprägt. Die Geschichte selbst ist unrealistisch und auch die Charaktere wecken beim Leser keine Emotionen. In Summe lässt mich das Buch also eher mit gemischten Gefühlen zurück. Wen die Vergangenheit und all die Themen darum faszinieren, für den ist es durchaus eine Empfehlung. Wer eine spannende oder fesselnde Geschichte erwartet, der wird hier enttäuscht werden. Zeitzuflucht ist kein Buch, das man gelesen haben muss, aber man bereut, aufgrund der stellenweise sehr interessanten Überlegungen, die Lektüre auch nicht.
Buchinformation: Zeitzuflucht • Georgi Gospodinov • Aufbau Verlag • 342 Seiten • ISBN 9783351038892