Dort dort • Tommy Orange
Mit der Wahl meiner Lektüre bin ich oft in sicheren Gewässern unterwegs. Die Lebenszeit ist begrenzt und zu kurz für ein schlechtes Buch. Aber ab und zu teste ich auch Literatur abseits dessen, was ich sonst sehr gerne lese, auch wenn die Trefferrate dann sehr schlecht sein kann. Dort dort wurde mir empfohlen und zwar mit dem Hinweis, dass ich doch auch „open-minded“ sein sollte. Natürlich haben zeitgenössische Bücher grundsätzlich einen schlechteren Stand bei mir. Gegenwartsliteratur in Deutschland ist dieser Tage beispielsweise ein kompletter Fail, um diese mache ich einen ganz großen Bogen. Ob Dort Dort ein gutes Buch ist oder sich in die Reihe der Gegenwartsliteratur-Enttäuschungen einreiht, das erfahrt ihr in diesem Beitrag.
Dort Dort handelt von zehn Native Americans, die in oder um Oakland leben und Nachkommen verschiedener nordamerikanischer indianischer Stämme sind. Das Buch portraitiert verschiedene Charaktere, mit ihren ganz eigenen Lebensgeschichten und Problemen. Da geht es um eine Frau, die bei der Besetzung von Alcatraz in den 70ern dabei ist, um einen jungen Filmemacher, einen Drogendealer oder Tony, der mit den Folgen des Alkoholkonsums seiner Mutter während der Schwangerschaft zu kämpfen hat. Die einzelnen Kapitel tragen den Namen der Figuren und stellen eine Episode aus deren Leben dar, oder portraitieren die Charaktere auf unterschiedliche Weise. Das Schicksal aller dieser Charaktere sind miteinander verwoben und die Lebenswege treffen schließlich auf einem Powwow, einem traditionellen indianischen Fest, zusammen.
Ich war neugierig, was mich in dem Buch erwarten würde. Vom Klappentext hatte ich befürchtet hier einen ideologisierenden Roman in Händen zu halten. Ich war überrascht, wie unaufgeregt er ist. Er kommt ohne Sentimentalitäten, übertriebenen Vorwurf oder Ideologisieren aus. Die Kapitel sind fragmentartig und Orange gelingt es mit einer schlichten, aber sehr filmartigen und bildhaften Sprache, die Szenen vor dem geistigen Augen des Lesers zum Leben zu erwecken. Dabei hat er einen sehr vielfältigen Stil und variiert seine Erzählweise. So sind Kapitel im auktorialen Erzählstil verfasst, er wechselt aber auch zur Ich- und sogar Du-Erzählperspektive. Das ist schön abwechslungsreich, die Wirkung, die Nähe und den Einblick den ich in die Figuren hatte, war aber immer sehr ähnlich. Es gelingt Orange oft sehr treffende Formulierungen zu finden, die es leicht machen, mit den Figuren zu fühlen:
„Sie[…]versuchte zwei Stunden lang sich einzureden, sie schlafe, oder vielleicht schlief sie zwischendurch auch ein, träumte aber, sie könne nicht schlafen“
S. 105
Dennoch hat mich die Sprache nur mäßig begeistert. Sie ist sehr präzise und man merkt, dass er damit fokussiert ein Bild oder Gefühl beim Leser heraufbeschwören möchte. Zugleich waren mir die Sätze dann oft doch zu schlicht. Natürlich passen sie sehr gut zu den Charakteren. Hinsichtlich des Leseflusses und den Klang, den das Buch in mir geweckt hat, war es dann aber doch eher im durchschnittlichen Bereich.
Was mich an dem Buch fasziniert hat, war die Betrachtung des Erbes der Kultur der Native American. Es ist keine Kultur, die es nicht mehr gibt und verschwunden ist (wie sie beispielsweise in Horcynus Orca zu finden ist.). Es ist eine Kultur, die noch da ist, die aber durch die Zerstörung und Übernahme des Lebensraums durch die Europäer zerrissen und verstreut wurde. Sie ist nicht vollständig verschwunden, sondern sie wurde massiv geschädigt, verändert und durch die Urbanisierung, Industrialisierung und Technologisierung weiterentwickelt. Und darin liegt auch die Bedeutung des Titels „Dort dort„. Denn es gibt kein „Dort“ mehr, also kein Zuhause, es wurde weggerissen und neu bebaut, wobei in dem Roman direkt auch Bezug zu Oakland genommen wird, aber weiter gefasst die Muttererde gemeint ist, das Land, das einst den Native Americans gehörte und der fruchtbare Boden ihrer Kultur war und nun nicht mehr existiert.
Die wenigen verbleibenden Vertreter dieser Kultur sind verstreut und in dem Roman ist deutlich zu sehen, wie die Figuren nach ihrer kulturellen Identität suchen. Wie sie mit sich kämpfen und wie sie auch Nachkommen einer sozial schwachen Minderheit sind, die mit entsprechenden Benachteiligung zu kämpfen haben. Alle Figuren haben massive Probleme, sind häufig alkohol- und drogensüchtig, im Drogenmilieu tätig, kämpfen mit ihrer Identität, haben familiäre Probleme und leben in prekären Verhältnissen. Mit sehr hohen Selbstmordraten aufgrund völliger Perspektivlosigkeit.
„In einer Gemeinschaft in South Dakota, wo ich vor kurzem gearbeitet habe, haben mir die Leute gesagt, sie seien ausgetrauert. Das war nach siebzehn Selbstmorden innerhalb von acht Monaten.“
S. 107
Die Episoden und die Figuren vermitteln diese fehlende oder mangelhafte kulturelle Identität, die Nöte, das kaputte soziokulturelle Umfeld, das dennoch die Spuren der indianischen Kultur in sich trägt. Das ist das Faszinierende an dem Buch, dass der Leser diese Spuren durch all diese einzelnen schweren Schicksale hindurch erkennen kann. Wie schwer diese Identitätsfindung ist, wird an vielen Stellen deutlich. Beispielsweise wenn von „Pretendian“ die Rede ist, also Native Americans, die doch gar nicht das Anrecht haben als solche zu gelten, weil sie nur zu einem kleinen Anteil Nachkommen von Native Americans sind und sonst von Weißen abstammen. Oder an den Indianerflüchen, an die geglaubt wird, während gleichzeitig aber zugleich sehr wenig Wissen an die Kinder und Enkel weitergegeben wird. Einige der Figuren leiden darunter, beispielsweise Orvil, der gerne bei einem Powwow tanzen möchte, dies aber heimlich übt. Gerade in der Adoleszenz, wo die eigene Identität, die eigene Herkunft und Persönlichkeit wichtig ist, haben die Figuren oft mit sich zu kämpfen. Der eigene kulturelle Hintergrund spielt eine wichtige Rolle und das diese für die Native Americans stark beschädigt ist, das ist in diesem Buch durchgängig zu spüren. Orange findet hier oft sehr gute Worte.
„Die Sache ist so: Wenn du es dir leisten kannst, nicht über Geschichte nachzudenken, sie nicht mal zu beachten, egal ob du sie richtig gelernt hast oder nicht oder ob sie deine Beachtung überhaupt wert ist, dann kannst du dir sicher sein, dass du an Bord des Schiffes bist, dass man dir hors d’oeuvres serviert und die Kopfkissen aufschüttelt, während andere draußen im Meer treiben, ertrinken oder sich an kleine Rettungsinseln klammern, die sie reihum immer wieder aufblasen müssen, kurzatmige Menschen, die noch nie von hors d’oeuvres gehört haben.“
S. 139
Höhepunkt des Buches ist ein Powwow, in dem alle Charaktere schließlich aufeinander treffen. Ich hatte zuvor noch nicht davon gehört, dass es diese Powwows gibt. Ein Powwow ist ein traditionelles Treffen der Native American Gemeinschaften, das Tanz, Gesang, Trommeln und andere kulturelle Aktivitäten umfasst. Es dient als Möglichkeit, kulturelles Erbe zu feiern, Gemeinschaft zu stärken und Traditionen weiterzugeben. Orange führt es wie folgt ein.
„Wir haben die Powwows geschaffen, weil wir einen Ort zum Zusammensein brauchen. Etwas Stammesübergreifendes, etwas Altes, etwas zum Geldverdienen, etwas, worauf wir hinarbeiten können, für unseren Schmuck, unsere Lieder, unsere Tänze, unsere Trommel. Wir führen die Powwows fort, weil es nicht viele Orte gibt, an denen wir uns alle versammeln können, an denen wir einander sehen und hören.“
S. 137
Orange fasst hier noch viel mehr Gedanken zu diesem schweren indianischen Erbe zusammen. Angefangen vom TV Testbild mit einem Indianer Profil, über die Frage danach, wer als Native American zählt, wenn jemand nur zu einem Achtel, einem Sechzehntel oder noch weniger indianisches Blut in den Adern hat, bis hin zu zahlreichen Metaphern für das, was den indigenen Amerikanern angetan wurde.
Tommy Orange wurde 1982 in Oakland geboren, hat selbst indianische Wurzeln und war mit Dort dort Finalist für den Pulitzer Preis 2019 und hat schließlich den American Book Award 2019 gewonnen. In diesem Jahr erschien eine Fortsetzung von Dort dort mit dem Titel Verlorene Sterne. Darüber hinaus hat er lediglich eine Kurzgeschichte verfasst.
Dem Buch vorangestellt ist ein Glossar, in dem nochmal kurz zusammengefasst die einzelnen Figuren aufgeführt sind. Das habe ich als sehr hilfreich empfunden, wenn ein paar Tage Pause zwischen der Lektüre lag. Das Buch selbst hat mir von der Gestaltung ganz gut gefallen. Mit der Feder auf dem Schutzumschlag und dem Vorsatzpapier, der Wahl der Farben und auch der Typographie. Allerdings kommt es ohne Lesebändchen oder andere Extras. Bibliophil betrachtet also die Basisausstattung.
Fazit: Mit Dort dort hat Tommy Orange einen Roman geschrieben, der für mich durchaus neuartig und ungewohnt war. Sowohl vom Thema, als auch von der Erzählweise. Wie Orange hier die Lebenswege und individuellen Schicksale seiner Figuren verwebt und dabei einen intensiven Einblick in die kulturelle Verlorenheit und den erschütterten Grundfesten der Native Americans gibt, ist sehr faszinierend, hervorragend umgesetzt und erweitert den Horizont sehr. Gerade der Blick auf die Überreste einer Kultur geben dem Buch eine tiefe Bedeutungsebene. Die klar ausgerichtete sprachliche Ausgestaltung des Buches, die Orange variiert, an seine Figuren anpasst, ist sehr treffend, bildhaft, erzeugt ausdrucksstarken Szenen, war mir oft aber dann auch zu schlicht. In Summe ist es ein sehr gut komponierter Roman, der einen authentischen Blick auf einen Kulturraum ermöglicht, der mir sonst völlig verschlossen geblieben wäre.
Buchinformation: Dort dort • Tommy Orange • Hanser Verlag • 284 Seiten • ISBN 9783446264137
Ich habe mir auf der FBM bei Hanser den zweiten Band gekauft und bin sehr gespannt. Danke für die ausführliche Rezension dessen, was da vermutlich auf mich zukommt. Das erste Buch werde ich mir wohl gebraucht besorgen.
LG aus dem Taunus
Roland
Danke für diese gute Rezension. Mich hat dieses Buch sehr neugierig gemacht. Amerika und seine indigenen Völker sind mega interessant. Wie so viele andere Völker dieser Welt, die irgendwo zwischen all den Europäer verschwinden.
Liebe Grüße
Andrea