Höhenflug • Gaito Gasdanow

Seitdem ich vor zehn Jahren mein erstes Buch von Gaito Gasdanow gelesen habe, bin ich fasziniert und begeistert von seinen Romanen und Erzählungen. Seine elegante, präzise und sehr poetische Sprache zieht den Leser in seinen Bann und durch ihren fast musikalisch anmutenden Klang ergibt sich ein sehr fesselnder Lesefluss. Zu Beginn gab es nur wenige übersetze Romane von ihm. Dank dem unabhängigen Übersetzer Jürgen Barck werden dem deutschsprachigen Publikum nach und nach alle seine wunderbaren Bücher zugänglich. Höhenflug ist Jürgen Barcks neueste Veröffentlichung, erscheint Anfang Juli und ist zugleich die erste und einzige deutsche Übersetzung dieses fast verloren gegangenen Werks aus Gasdanows Feder. Lest hier, was den Roman so besonders macht.
Höhenflug handelt von Serjoscha, seiner rastlosen Mutter Olga Alexandrowna und deren schöne aber unterkühlt wirkende Schwester Lisa. Sergej Sergejewitsch, der Vater von Serjoscha, ist sehr reich und so führen die vier ein finanziell unabhängiges Leben. Doch jede der vier Personen, aber auch zahlreiche Nebenfiguren, die Gasdanow im Wechsel beleuchtet und beschreibt, sucht auf eigene Art und Weise nach einem erfüllten Leben. Dabei charakterisiert Gasdanow die einzelnen Figuren und portraitiert deren Beziehung zueinander. Nach und nach erfährt und erlebt der Leser, wie die ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten ihr Leben gestalten und wie unterschiedlich sie nach Erfüllung suchen.
Gasdanows Bücher waren immer geprägt von sehr feinen, präzisen, aber auch einfühlsamen Charakterbildern. Er schafft es immer subtile emotionale Nuancen und psychologische Zustände seiner Figuren perfekt in einer ganz eigenen Sprache auszudrücken. Das ist auch in diesem Buch der Fall. Er wechselt von einer Figur zur nächsten, wie ein Scheinwerferlicht auf einer Theaterbühne, wandert es von einem zum nächsten und auch wieder zurück. So treibt der Leser durch das Buch und lernt die Figuren immer besser kennen. Das habe ich als sehr angenehm empfunden und das hat eine ganz eigene Sogwirkung. Zu Beginn waren die Beschreibungen sehr präzise und haben stark an den Stil der Realisten erinnert. Doch im Verlauf spürt man wieder den ganz typischen Klang, der jedem von Gasdanows Werken anhaftet. Er findet einfach wunderbare Sätze, die gerade im Lesefluss ihre ganze Wirkung entfalten.

Besonders gegen Ende des Buches fand ich es richtig spannend. Als Leser ist einem bewusst, dass sich hier eine Situation auflösen muss und man ist gespannt, wie das passieren wird. Die faszinierendste Figur ist für mich Sergej Sergejewitsch, der mich stark an Onkel Pjotr Iwanytsch aus Eine gewöhnliche Geschichte von Iwan Gontscharow erinnert hat. Er ist zumeist spöttisch und mutet oft fast zynisch an. Trotzdem ist er sehr umgänglich und man merkt, dass er ein guter Mensch ist. Er ist von seinem Wesen am besten ausgestaltet und man merkt, dass Gasdanow mit ihm etwas zum Ausdruck bringen möchte. Während Gontscharows Pjotr dazu neigt eine ironische Figur zu sein, so habe ich hinter dem Denken und Handeln von Sergej Sergejewitschs eine ganz eigene und konsistente Persönlichkeit empfunden. Das hat mir an dem Buch sehr gefallen, dass man auch nach der Lektüre über die Protagonisten nachdenkt, dass nicht völlig eindeutig ist, was Gasdanow darstellen möchte und dass das Buch auch ein wenig ein Rätsel ist, dass auch viel Raum für Diskussionen bleibt.
Sehr interessant ist Jürgen Barcks Vorwort. Dort erfährt man, dass das Buch im Jahre 1939 als Fortsetzungsroman erscheinen sollte. Das passierte auch, allerdings kam es nie zu einer Veröffentlichung des letzten Teils, da in den Wirren des Krieges die Fortsetzung der Zeitschrift nicht mehr möglich war. Erst im Jahr 1992 erscheint schließlich das gesamte Buch, nachdem der amerikanische Slawist Laszlo Dienes den letzten Teil des Buches in Archiven entdeckt hatte. 2016 wurde das Buch dann ins Englische übersetzt und man muss es Jürgen Barck sehr hoch anrechnen, dass er 2025 dieses wunderbare Buch das erste Mal auch der deutschen Leserschaft zugänglich macht. Und ich möchte hinzufügen, wie traurig es für den deutschsprachigen Literaturbetrieb ist, dass ein freier und unabhängiger Übersetzer diese wirklich bemerkenswerte Leistung bringt und ohne jegliche Unterstützung Gasdanows Bücher in einer solchen Verlagsqualität übersetzt und veröffentlicht. Das sagt sehr viel über die Buchkultur in diesem Land aus.

Es gab eine zweite Tatsache an diesem Buch, die mich sehr fasziniert hat. Ich habe nochmal das Veröffentlichungsdatum mit dem seiner anderen Werke verglichen und war sehr überrascht. Sein Debütroman Ein Abend bei Claire erschien 1929 und darin verarbeitete Gasdanow seine Kriegserlebnisse und seine Flucht ins Exil nach Paris. Nächtliche Wege (ab 1939), Die Rückkehr des Buddha (1947) und Das Phantom des Alexander Wolf (1948) waren sehr autobiografisch geprägt und zeichneten sich immer dadurch aus, dass der Protagonist immer irgendwie am Rande der Gesellschaft steht, immer ein Beobachter ist, verloren ist, in dieser Gesellschaft, die für ihn ein Exil und keine Heimat ist. Erst in seinem Spätwerk, in Romanen wie Erwachen (1965/66) oder Die Pilger (1954), gab es für mich diesen Wechsel der Perspektive hin zu der Suche nach einem erfüllten Leben. Ich hatte immer angenommen, dass dieser Wechsel mit Gasdanows Werdegang korreliert und dass er erst in den späteren Jahren seinen Frieden gemacht und ein deutlich versöhnlicheres Weltbild gewonnen hatte. Auch wenn es ihm immer verwehrt bleiben sollte, nach Russland zurückzukehren, worum er sich bemüht hatte, merkt man seinen Büchern immer seine Sehnsucht nach seiner eigentlichen Heimat an. Mich hat Höhenflug sehr überrascht, denn es zeigt, dass diese Annahme nicht richtig war und dass ein Roman schon zu einem so frühen Zeitpunkt genau dieses humanistische Weltbild als zentrales Sujet hat. Höhenflug wurde ja bereits 1939 fertiggestellt. Am Ende fügen sich aber alle seine Romane zu einem gelungenen Gesamtwerk zusammen und diese Fragestellung ist gar nicht so entscheidend.

Die Ausgabe gefällt mir sehr gut und gerade die Illustration auf dem Cover passt hervorragend und ist einfach gut gewählt. Mir gefällt auch die Farbgebung des Buchs, mit den Grüntönen und dem passenden Lesebändchen. Der Aufdruck von Gasdanows Namen auf dem Buchdeckel ist ein Detail, das mir bei allen von Jürgen Barck übersetzen Büchern sehr gut gefällt. Auch die Typographie ist mit Sorgfalt gewählt. Von der Optik ist es sehr ansprechend und wenn ich mir so manche Ausgaben von Verlagen anschaue, so sticht dieses Buch auch in dieser Disziplin sehr positiv heraus und ist auf höchstem Niveau.
Ein Zweites schönes Detail ist, dass ich die Ehre hatte, das Nachwort zu diesem Buch zu schreiben. Das hat mich sehr gefreut und ich denke Gasdanow, dieses Buch, aber auch sein Leben und Werk sind einfach faszinierend. Ich mag es, wenn ein Nachwort auch immer über das Leben des Autoren informiert und dann das Gelesene in einen Kontext setzt und es im Gesamtwerk einordnet. An der Stelle nochmal herzlichen Dank an Jürgen für diese Ehre.
Fazit: Jedes Mal wieder bin ich fasziniert und begeistert, was für hervorragende und professionelle Arbeit der Übersetzer Jürgen Barck leistet. Höhenflug ist ein faszinierendes Buch, das mit hervorragenden Charakterbildern, einer gewohnt schönen und melodischen Sprache und erneut mit tiefgründigen Fragestellungen den Leser in seinen Bann zieht. Auch nach der Lektüre denkt man über die teilweise sehr unterschiedlichen Figuren nach. Das Buch gibt viel Raum, um das darin Gelesene in einen Kontext zu setzen und gerade das macht es zu einer Lektüre, die noch länger nachwirkt. Besonders in seiner zeitlichen Einordnung in Gasdanows Gesamtwerk, ist dieses Buch sehr faszinierend, da es die zentralen Themen seines Spätwerks aufgreift. Für mich ist es ein wunderbares Buch, ein Meisterwerk, genau so wie alle Werke von Gaito Gasdanow. Ich kann mich nur erneut bei Jürgen Barck bedanken, dass er mir diese genussvollen Lesestunden ermöglicht.
Buchinformation: Höhenflug • Gaito Gasdanow • BoD Verlag • 270 Seiten
Eine sehr gelungene Rezension, die mich neugierig auf den Autor und diesen Titel gemeinsam hat.