Dubliner • James Joyce

Dubliner von James Joyce

Vor nicht allzu langer Zeit habe ich einen Vortrag besucht, in dem es um Claire Keegan und Literatur aus irischer Feder im Allgemeinen ging. Dabei stolpert man unweigerlich über Joyce und nicht zuletzt auch über seine Kurzgeschichtensammlung Dubliner. Das Buch wurde mir mehrfach empfohlen und die Erwähnung in dem besagten Vortrag gab für mich den Ausschlag das Buch zu lesen. Anders als Ulysses sollte es kein literarisches Kunstprodukt zur Beschäftigung von nicht ausgelasteten Akademikern sein. Meine Neugierde war zumindest hinreichend geweckt, ob der Autor auch neben Ulysses etwas zu bieten hat.

Dubliner umfasst fünfzehn Kurzgeschichten, entstanden zwischen 1904 und 1907 und beschreibt Szenen aus dem Leben von Menschen aus der unteren und mittleren Gesellschaftsschicht. Über die verschiedenen Lebensphasen hinweg, also von Kindern, Jugendlichen bis hin zu Erwachsenen, stellt Joyce verschiedene Personen, einzelne Momente und Lebensabschnitte dar. Es geht ihm dabei um gewöhnliche Menschen und deren ungeschönte Lebensrealität. Auf diese Weise entsteht ein Sittengemälde Dublins um 1900 herum, das die irische Gesellschaft dieser Zeit portraitiert.

Dubliner von James Joyce

James Joyce, der seinem Geburtsort Dublin immer sehr ambivalent gegenüberstand, sah seine irische Heimat in einer Phase des geistigen, sozialen und moralischen Stillstands, einer „Paralyse“. Und genau das stellen die einzelnen Geschichten auch dar. Sie zeigen Menschen, die in Routinen gefangen sind, die vom Leben enttäuscht sind, die aber auch unfähig sind, sich daraus zu befreien. Frauen sind sozial eingeschränkt, Männer sind beruflich und familiär unzufrieden und gescheitert und Jugendliche erleben ihre erste Desillusionierung. Häufig handelt es sich um einsame Außenseiter oder einfache Arbeiter. Besonders im Kontext der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen Irlands im 19. Jahrhundert, ist das durchaus nachvollziehbar.

Dublin war um die Jahrhundertwende geprägt von politischer Stagnation, religiöser Dominanz und sozialer Ungleichheit. Eine Atmosphäre, die Joyce zusammengefasst als „Paralyse“ bezeichnet und die eines der Grundthemen von Dubliner ist. Zudem stand Irland unter britischer Herrschaft, war Teil des Vereinigten Königreichs und Dublin war eine verwaltete Provinzstadt. Nach dem Tod des Politikers Parnell war die irische Unabhängigkeitsbewegung zerschlagen und viele Iren desillusioniert, was zu Politikmüdigkeit geführt hatte. Hinzu kam der starke kirchliche Einfluss, der sowohl das öffentliche als auch das private Leben dominierte. Natürlich konservativ und repressiv, wie das bei theistischen Organisationen eigentlich immer der Fall ist. Soziale Klassentrennung, Armut, Alkoholismus, wirtschaftliche Perspektivlosigkeit, stark ausgeprägte Geschlechterrollen und das religiös kontrollierte Bildungssystem taten ihr Übriges.

Eine zweite Besonderheit von Dubliner ist die „Epiphanie“, eine Erzähltechnik, bei der die Figur plötzlich eine tiefgreifende Erkenntnis über sich selbst oder die Welt gewinnt. Oft geschieht das aus einem ganz banalen Moment heraus. Joyce prägte diesen Begriff und der Stil von Dubliner basiert genau auf dieser Erzähltechnik. Die Geschichten haben keine Pointe, keinen Plottwist oder ein novellenartiges Element. Die Figuren bleiben in ihrem Leben gefangen, haben aber immer einen Moment, in denen ihnen oder dem Leser bewusst wird, wie sehr sie in einer Lebens- oder Denkweise gefangen sind. Auf mich hat das bei einigen Geschichten sehr stark gewirkt (z.B. Ein schmerzlicher Fall), bei anderen fand ich es nicht so stark ausgeprägt.

Für mich ist Dubliner ein Klassiker, der ein kulturelles und soziales Umfeld meisterhaft darstellt und durch die zahlreichen Kurzgeschichten erlebbar macht. Gleichzeitig setzt Joyce auf einen starken Realismus und das macht die Lektüre nur mäßig unterhaltsam. Gerade eine wendungsreiche Geschichte erzeugt natürlich Spannung und das findet man in diesen Erzählungen nicht. Sie sind aber durchsetzt mit zahlreichen kleinen Anspielungen, Momenten, Gedanken, Emotionen, Stimmungen, die sich oft erst aus Zwischentönen ergeben und das macht die Lektüre wieder faszinierend. Jede Geschichte lässt Fragen offen und ich habe mich immer wieder dabei ertappt, wie ich mich auf die Suche nach weiterführenden Informationen gemacht habe. Ebenso wie in Ulysses findet man hier zahlreiche Bezüge und Details zur Gesellschaft, Kultur und Politik dieser Zeit in Dublin. Die Anmerkungen der Manesse Ausgabe sind hier sehr wertvoll und helfen sehr den gesamten Text zu verstehen.

Dubliner von James Joyce

Joyce verwendet eine ungeschnörkelte, direkte und grammatikalisch oft schlichte Sprache, welche die Gesellschaftsschicht hervorragend widerspiegelt. Stilistisch war dies wohl für den Erscheinungszeitpunkt eher ein Novum. Es passt sehr gut zu dem, was er darstellen möchte, gleichzeitig ist es aber wenig poetisch zu lesen. Besonders wer den Stil des Realismus und der Romantik liebt, wird hier ganz deutlich den Wechsel in die Moderne spüren. Joyce beschreibt Verhalten, Dialoge, Routinen und die Atmosphäre, aber interpretiert nicht. Das passiert in der Vorstellung des Lesers. Wenn er beispielsweise in Ein schmerzlicher Fall das Zuhause des Protagonisten beschreibt und man beim Lesen einfach sofort die Einsamkeit und eine gewisse Trostlosigkeit spürt, dann wirkt das schon sehr stark auf den Leser.

Natürlich übt Joyce Kritik an der irischen Gesellschaft. Die Kirche, der Nationalismus, die Konventionen: Joyce zeigt, wie diese Kräfte die einzelnen Menschen einschränkt, wie ihnen dieser feste Rahmen schadet. Ich denke das ist etwas, das viele Klassiker zum Ausdruck bringen. Eine Gesellschaft kann in ihrer Gesamtheit in einen Zustand kommen, der stabil ist, der aber für die Menschen, die darin leben, nachteilig ist. Die Strukturen halten die Menschen aber in genau der beschriebenen „Paralyse“. Das ist in 1984 von Orwell so und ich denke, das ist auch in echten Gesellschaftssystemen dieser Tage der Fall. Gerade dieses Sujet ist aktueller denn je.

Dubliner von James Joyce

Ich habe mir die Manesse Ausgabe gekauft und die ist von der Gestaltung richtig schön und farbenfroh. Das ist einfach ein schönes Büchlein, das gut in der Hand liegt und auch von der Typografie überzeugt. Es gibt sogar eine farbige Fadenheftung, ein dieser Tage sehr seltenes Extra, zumal der Faden im irischen Grün gehalten ist. Genauso das Lesebändchen. Ein echter Wermutstropfen ist der Pappeinband. Da wäre ein Leineneinband schon schön gewesen. Vermutlich würde das die Marge für das Buch zu stark drücken. Ein Extra, das ich bei den neuen Klassikern der Weltliteratur von Manesse sehr vermisse.

Dubliner von James Joyce

Die Anmerkungen fand ich hervorragend, sie waren sehr hilfreich und dadurch versteht man einige Passagen erst richtig. Das Nachwort fand ich nicht so gelungen. Es enthält für meinen Geschmack zu viel Interpretation und wenig greifbare Informationen. Beispielsweise zu Joyce, seinem Leben und die Einordnung in sein Gesamtwerk.

Fazit: Ich fand die Lektüre von Dubliner faszinierend. Durch die direkte Sprache entsteht sehr schnell eine dichte Atmosphäre, während zugleich viel von dem kulturellen Hintergrund zwischen den Zeilen hindurchschimmert. Aus einer kulturellen Perspektive ist dieses Buch also sehr spannend. Hinsichtlich seines Unterhaltungswertes ist es allerdings keine fesselnde Lektüre. Schon beim Lesen habe ich mich dabei ertappt, wie ich immer wieder zu den Hintergründen recherchiert habe. Ganz ähnlich habe ich auch Ulysses erlebt, nur da ist es natürlich viel extremer und Dubliner kann man durchaus ganz entspannt ohne intensiver Recherche lesen. Dennoch merkt man, dass erst der kulturelle Bezug, dem Buch seine ganze Tiefe gibt. Im Leser entsteht während der Lektüre ein Bild von der dubliner Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Ein Bild, das sich wie ein Mosaik aus den einzelnen Schicksalen und Lebensrealitäten ergibt. Die Ausgabe vom Manesse Verlag gefällt mir von der Buchgestaltung und Verarbeitung sehr gut. In Summe ist Dubliner ein Buch, das durchaus lesenswert ist, auf das man aber vom Thema auch Lust haben muss.

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