Lieber Feind • Jean Webster

Vor ein paar Monaten habe ich von Jean Webster Lieber Daddy-Long-Legs gelesen und auch rezensiert. Das Buch ist im neuen Königskinder Verlag (eigentlich der Carlsen Verlag) erschienen, der leider nun sein letztes Programm vorgelegt hat und damit schon wieder aufhört. Als Fortsetzung zu Lieber Daddy-Long-Legs ist nun Lieber Feind erschienen. In dem Verlagsprogramm sind eigentlich primär schmucke Jugendbücher zu finden, aber eben auch ganz versteckt diese bibliophilen Klassiker, die 1912 und 1915 veröffentlicht wurden. Der erste Band hat mir sehr gut gefallen und tatsächlich steht dieser zweite Roman dem ersten in nichts nach. Aber erstmal der Reihe nach zum Inhalt.

In Lieber Daddy-Long-Legs war Judy Abbott, eine junge, 18 jährige Waise die Protagonistin, welcher von einem reichen aber inkognito bleibenden Gönner ein Studium finanziert wurde. Die Bedingung war, dass sie ihm regelmäßig Briefe schreiben sollte und so bestand dieses Buch ausschließlich aus Judys Briefen. Ganz analog dazu ist auch Lieber Feind als Briefroman angelegt. Darin ist aber nicht mehr Judy die Autorin der zahlreichen Briefe, sondern Sally McBride, ihre beste Freundin aus Studienzeiten. Judy überträgt dem jungen Mädel die Leitung des Waisenhauses und Sally, Tochter aus wohlhabenden Hause, nimmt die Rolle nur deshalb interimsweise an, um ihren spottenden Fast-Verlobten zu zeigen, dass sie durchaus dazu in der Lage ist so einen Job zu meistern. Ihre Briefe sind primär an Judy und manchmal auch an andere Personen gerichtet und sie schreibt ihrer besten Freundin ihre Erlebnisse und Eindrücke, wie sie das Waisenhaus nach und nach umbaut und dabei freundlicher und kindgerechter gestaltet.

Vom Stil ist das Buch genauso locker und fröhlich wie Daddy Long-Legs geschrieben. Sally ist eine aufgeweckte, lebensfrohe und mit all der Quirligkeit junger Jahre ausgestattet und erneut kann der Leser verfolgen, wie ein junger Mensch zu einer verantwortungsbewussteren Frau heranreift und mit ihren Aufgaben und der Verantwortung wächst. Die Geschichte hat keine steile Spannungskurve, ist aber dennoch durchgängig unterhaltsam und hat einige geringfügig aufregendere Episoden mit eingeflochten. Und natürlich ist auch Sallys Liebesleben ein Thema. Die Lektüre habe ich als sehr kurzweilig empfunden und das Buch sehr schnell ausgelesen. Irgendwie konnte ich es, einmal angefangen, dann doch nicht mehr aus der Hand legen. Die lockere und einfache Sprache der Briefe zusammen mit den Eindrücken und Erlebnissen von Sally sind wirklich sehr unterhaltsam. Das liest sich absolut mühelos und hat mich am Abend immer sehr entspannt. Es ist leichte Kost, aber zusammen mit der schönen charakterlichen Entwicklung und dem Einblick, den der Leser in den Alltag eines Waisenhauses bekommt, habe ich es aber auch nicht als oberflächlich empfunden.

So richtig realistisch ist mir der Inhalt allerdings nicht vorgekommen. Die finanzielle Situation ist aufgrund der Vorgeschichte hier natürlich entspannter, aber insgesamt hat sich das alles schon sehr optimistisch angehört. Das nehm ich der Autorin nicht ab, dass das in einem Waisenhaus damals so fluffig war. Klar, sie erzählt schon auch von einigen Kinderschicksalen, die nicht schön sind, aber in Summe ist das alles schon sehr harmonisch dargestellt. Also nicht vergleichbar mit dem Waisenhaus von Jane Eyre oder so. Aber bei dem Buch habe ich mir auch etwas leichtere Lektüre erwartet und gewünscht und so ist das auch nicht verkehrt.

Dass dieses Buch in einem Jugendbuchverlag veröffentlicht wird, halte ich für sehr passend. Es hat zwar als Handlungsort das Amerika der Jahrhundertwende, könnte aber vom Stil und der Sprache her auch aus diesen Tagen stammen. Wenn man nicht wüsste, dass es 1915 veröffentlicht wurde, würde das auch als aktueller Roman durchgehen. Ok, das sag ich jetzt, weil ich ständig Klassiker lese, also mit der Einschätzung kann ich jetzt auch sehr daneben liegen.

Jean Webster ist eine amerikanische Autorin und Journalistin gewesen, die von 1876 bis 1916 in New York lebte und primär über Frauenthemen geschrieben hat. Sie war eine Nichte von Mark Twain, das Schreiben lag ihr also sozusagen im Blut. Daddy Long-Legs war ihr berühmtester Roman. Ihre Figuren finde ich sehr sympatisch und sie wirken aufgeklärt und selbstbewusst. Wenn ich da an Henry James Schilderungen der amerikanischen Frauen denke, dann waren die damals schon ihrer Zeit voraus.

Wirklich viele Bücher von Jean Webster gibt es nicht. In deutscher Sprache sind nur diese beiden Romane und als einzige schmucke Ausgabe nur im Königskinder Verlag erschienen. Manche Verlage schaffen es einfach, vergessen geglaubte Bücher neu zu entdecken. Ein wichtiger kultureller Beitrag, bei dem ich immer hoffe, dass er sich auch finanziell lohnt und die Verlage nicht damit aufhören solche Schätze zu heben.

Von der Aufmachung gefällt mir das Buch wieder sehr gut, konnte mich aber nicht so begeistern wie Daddy Long-Legs. Es ist schön verarbeitet, hat auf dem Einband wieder ein sehr hübsches Blumenmuster, kommt mit farblich abgestimmten Lesebändchen und wartet auch wieder mit sehr schönen und passenden Illustrationen von Franz Renger auf. Die lockern die Lektüre nochmal auf und unterstreichen die fröhliche Art Sallys und auch den humorvollen Unterton, der in jedem Brief immer mitschwingt. Was nicht so richtig passt, ist die rosa Farbgebung. Das hat vom Schema durch die unzähligen Schmonzetten schon ausgedient und schiebt das Buch ein wenig in die Romantikecke, was aber nicht zutrifft. Passender hätte ich eine von Gelb und Orange geprägte Farbpalette bevorzugt, denn Sally macht das Leben der Waisenkinder ja fröhlicher und bringt neues Leben und viel Wärme und Farbe in das graue und triste Waisenhaus. Aber ich will nicht jammern, das Buch ist wirklich ausnehmend schön und bibliophil und wie Daddy Langbein wird es dauerhaft in meine Privatbibliothek aufgenommen.

Fazit: Mit Jean Websters Lieber Feind hat der Königskinder Verlag erneut einen sehr unterhaltsamen, liebevoll geschriebenen und humorvollen Klassiker mit einer sehr sympatischen Protagonistin vorgelegt. Ein sehr schöner Briefroman zum neu entdecken, der hervorragend die persönliche Entwicklung und das charakterliche Reifen einer jungen Frau beschreibt, die ihren Platz erst finden muss und dabei selbst viel Liebe und Leben ausstrahlt. Das macht die Lektüre sehr angenehm, mit den lockeren Briefen zu leichter und entspannender Kost und ist insgesamt sehr kurzweilig. Einen tiefgründigen Klassiker erwartet den Leser hier nicht und auch sprachlich ist er eher einfach gestrickt. Zudem ist der Spannungsbogen sehr flach und ebenso ist die Geschichte nicht sonderlich umfassend. Für entspannte Leseabende aber definitiv eine Empfehlung. Mir hat das Buch sehr gut gefallen.

Buchinformation: Lieber Feind • Jean Webster • Königskinder Verlag • 416 Seiten • ISBN 9783551560452

8 Kommentare

  1. Guten Morgen 🙂
    Auf dieses Buch freue ich mich auch schon sehr, nachdem mir Daddy Long Legs so ausnehmend gut gefallen hat. Schön zu sehen, dass Lieber Feind dem ersten nicht wirklich nachsteht. Danke für die schöne Rezension!

    Liebe Grüße!
    Gabriela

  2. Hallo Tobi,
    Vielen Dank für diese Empfehlung, die für mich gut paßt, da ich mich mit der Zeit, in der die Romane geschrieben wurden, beschäftige. Mir gefällt, dass Du auch mal „leichtere Kost“ rezensierst für entspannte Lesestunden.

    Grete

  3. Toll, dass auch fast vergessene Klassiker rezensiert werden. Und manchmal braucht man auch mal entspannende leichtere Lektüre,… vor allem im Hitzesommer (sitze gerade in 37 Grad Schatten). Evelin Brigitte Blauensteiner

  4. Ich bekam die beiden Bände von einer Freundin ausgeliehen, die sie seit Jahrzehnten immer wieder in die Hand nimmt und sich fest liest.
    Ich habe mich beim Buch „Lieber Feind“ Ausgabe Droste Verlag von 1974 über die Stellen erschrocken, in denen Sally über Vererbungslehre schreibt und geistig behinderten Kindern das Lebensrecht abspricht und vin ihrem Politikerfreund entsprechende Gesetze fordert. Vom Arzt des Waisenhauses, der ihr die Studie über die Familie Kallikak zu lesen gab, fordert sie, einem Mädchen Arsen zu geben:“Ist es recht, sie aufwachsen zu lassen, damit sie eine Linie von 378 Schwachsinnigen gründet, für die die Gesellschaft sorgen muss?“
    Da läuft es mir kalt über den Rücken.

    1. Liebe Nadine,

      vielen lieben Dank für den Tipp, also über das Buch wäre ich so schnell nicht gestolpert. Das liest sich auch ganz gut und das Cover erinnert mich sofort an die Autorin, ich kann mich da an ein Bild erinnern, wo sie auch so eine hübsche Hochsteckfrisur hat, die leider völlig aus der Mode gekommen ist 😉 Aber leider ist das Buch ziemlich dünn. Ich habe ihre Art zu schreiben als sehr erfrischend in Erinnerung, da hätte ich echt wieder Lust auf ein Buch von ihr.

      Herzliche Grüße
      Tobi

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