Doktor Schiwago • Boris Pasternak
Doktor Schiwago ist schon einige Zeit auf meinem Stapel ungelesener Bücher und nachdem ich die vergangenen Wochen etwas weniger Zeit zum Lesen zur Verfügung hatte, war es genau die richtige Lektüre, um wieder richtig in ein Buch abzutauchen. Mein richtig gehaltvoller Klassiker liegt schon einige Zeit zurück. Zudem ist Doktor Schiwago auch ein Winterbuch, weshalb es zur grauen und kalten Jahreszeit warten musste. Seit Anfang November gibt es auf Arte eine Doku zu dem Buch und nahezu zeitgleich trudelte bei mir ein neu erschienenes Buch vom Aufbau Verlag zur Entstehung des Romans ein. Es gab also gleich eine ganze Reihe von Gründen, sich dem Buch zuzuwenden. Eine gut gemachte Doku zu einem gerade gelesenen Buch zu sehen liebe ich ohnehin. Was es mit Doktor Schiwago auf sich hat und was für eine bewegte Geschichte sich hinter dem Roman verbirgt, darüber berichte ich heute ein wenig.
Pasternaks Buch war mir besonders wegen der bekannten Monumentalverfilmung aus dem Jahre 1965 ein Begriff, obwohl ich den Film nie angesehen habe und nur aus der Vorschau kenne. Habe ich mich einmal für ein Buch entschieden, dann halte ich alle Informationen darüber von mir fern und lese nicht einmal den Klappentext. Zu groß ist die Spoilergefahr. Erst im Anschluss informiere ich mich dann und ich war im Nachgang überrascht, was für eine politisch geprägte Hintergrundgeschichte dieses Buch hat.
Der Roman handelt von Juri Andrejewitsch Schiwago und erzählt die Geschichte seines Lebens. Sie beginnt mit dem 10 Jahre alten Juri, der soeben seine Mutter verloren hat und bei seinem Onkel unterkommt. Mit größeren Zeitsprüngen beschreibt Pasternak Juris Werdegang und sein Leben zur Zeit der Revolutionen, des ersten Weltkriegs und des russischen Bürgerkriegs zwischen den Jahren 1905 bis zum Sommer 1943. Neben Juris Leben gibt es noch weitere Handlungsstränge, wobei sich diese immer wieder überschneiden. Während Juri der Revolution zu Beginn positiv gegenübersteht, wandelt sich, aufgrund des Leids und Elends, sein Bild von der politischen Bewegung des Kommunismus. Ein wichtiger Teil der Geschichte ist Juris Liebesbeziehung zu Lara, die in den Wirren des Krieges auf eine harte Probe gestellt wird. Doktor Schiwago umfasst also ein recht breites Spektrum und ist ein Entwicklungsroman, ein Liebesroman, hat zahlreiche historische Elemente, wird an einigen Stellen philosophisch und ist auch sehr politisch.
Den Werken der russischen Autoren konnte ich immer viel abgewinnen, egal ob Tolstoi, Gontscharow oder Turgenjew, ich mag die Erzählungen über die russischen Gesellschaft und Menschen, die doch in vielen Punkten ganz eigen ist. Ich liebe auch diese Sinnsuche der russischen Seele, das Stellen der ganz großen Fragen und das Rühren an Glaube, Philosophie und Metaphysik, das bisher in jedem Roman mitgeschwungen ist. Das ist auch hier wieder der Fall. Auch in Gasdanows Büchern hat der russische Bürgerkrieg seinen festen Platz, nur ist er dort Vergangenheit und die politische und historische Bedeutung spielt bei ihm keine Rolle. Zwischen Tolstoi und Gasdanow klafft also eine Lücke, die Pasternak mit Doktor Schiwago sehr gut ausfüllt. Zwischen dem Sturz der Zaren mit der Februarrevolution 1917 folgte die Oktoberrevolution im selben Jahr und damit die Machtergreifung durch die Bolschewiki. Diese wollten eine „Diktatur des Proletariats“ errichten und bildeten die kommunistische rote Armee. Dem gegenüber stand die heterogen orientierte weiße Arme. Dazwischen gab es noch Partisanen und parteiloses Militär. Zwischen diesen Strömungen kam es zu kriegerischen Auseinandersetzungen.
In Doktor Schiwago wird dieser Zeitraum vollständig abgedeckt und das Leben der Menschen, die Hungersnot und Armut in Moskau, Juris Einsatz im Krieg, die Lebensbedingungen und auch die politische Kontroverse in der Bevölkerung hervorragend dargestellt. Während zahlreiche Figuren immer radikaler werden, stellt Juri Schiwago die Dogmen der neuen politischen Ordnung in Frage und zweifelt besonders an der gewaltsamen Durchsetzung einer solchen Diktatur.
Der Roman wird sehr episodenhaft erzählt und ist in zahlreichen kurzen Abschnitten unterteilt, die zu größeren Kapiteln zusammengefasst sind, die wiederum zu zwei Teile gebündelt wurden. Als dritter Abschnitt sind die Gedichte von Doktor Schiwago beigefügt, die dem Geschehen so mehr Authentizität geben sollen, wobei man bei mir mit Lyrik nicht viel gewinnen kann und ich diese nur überflogen habe. Der Reiz dieser Gedichte liegt darin, sie dann den Geschehen des Romans zuzuordnen und zu ermitteln, welches der Gedichte Doktor Schiwago in welcher Situation verfasst hat.
Der Einstieg in den Roman ist mir sehr schwer gefallen, denn gerade zu Beginn gibt es immer wieder größere Zeitsprünge und die ersten Abschnitte sind nur lose miteinander verbunden und schaffen es nicht, ein kontinuierliches Bild von den Hauptfiguren aufzubauen. Ich hatte beim Lesen das Gefühl, die Figuren nur stellenweise zu kennen und habe mich ihnen entsprechend wenig verbunden gefühlt. Das wird zur Mitte des Romans hin besser. Die Liebesgeschichte beginnt ebenfalls erst in der Mitte des Buches so richtig und erst da hat mich dann Juris und Laras Geschichte auch gepackt. Das Ende konnte mich dann ebenfalls wieder weniger begeistern, denn einige der Entscheidungen der Figuren konnte ich nicht nachvollziehen und erschienen mir etwas willkürlich zugunsten einer dramatischen Wirkung gewählt. Zudem sind einige der Begegnungen doch sehr unwahrscheinlich, das habe ich Pasternak dann oft nicht abgenommen. Wobei das die Geschichte natürlich wieder gut voran gebracht hat.
Ich fand den Stil des Buches sehr schlicht und damit etwas trocken, ich will fast sagen schnöde. Schön poetisch und klangvoll wird Pasternak dann aber, wenn er über die Natur schreibt, über die Liebe und wenn er philosophisch wird. Das hat mir wieder richtig gut gefallen und noch schöner wäre es gewesen, wenn dieser Stil das ganze Buch durchgängig so gewesen wäre.
Er spürte die Verheißung ihrer Nähe, ihrer herben Kühle, die hell war wie die Nacht des Nordens und keinem zu eigen, wie die erste Welle der Meeresbrandung, der man im Dunkel über den Sandstrand entgegenläuft. (S. 371)
Die Liebesgeschichte hat mich schon sehr bewegt und berührt. Da bin ich einfach anfällig und sofort dabei. Aber wie schon erwähnt habe ich dann Wendungen als konstruiert empfunden und für mich waren einige Entscheidungen von Juri nicht nachvollziehbar. Ich glaube, dass ein Mensch der wirklich liebt, anders handelt. Die Resumés die Pasternak dann seine Figuren ziehen lässt, wie er dann den Bogen zur politischen Ideologie spannt, wie er seine Charaktere mit diesen soziokulturellen Umfeld in Einklang bringt, das ist natürlich sehr meisterhaft. Das konnte mich dann wieder sehr überzeugen.
Niemals, selbst nicht in den Augenblicken besinnungslosen Glückes, verließ sie die größte ergreifendste Empfindung: des selige Bewußtsein, daß auch sie die Schönheit der Welt bilden halfen, daß zwischen ihnen als einem Teil des Ganzen und dem Universum in seiner Schönheit eine tiefe Entsprechung herrschte. Diese Harmonie war das Prinzip ihres Lebens. Die Erhöhung des Menschen über die ganze andere Natur, die modische humanitäre Überheblichkeit und die Vergötterung des Menschen berührten sie darum nicht. Die Prinzipien eines verlogenen Kults der Gesellschaft, übertragen auf die Politik, waren in ihren Augen erbärmlich und unverständlich. (S. 606)
Was mir sehr gut gefallen hat, sind die Beschreibungen der Natur, des russischen Hinterlands, wie Schiwago mit dem Zug unterwegs ist oder wie er sich in der Einöde nieder lässt. Das ist schon sehr stimmungsvoll und kann man sich beim Lesen sehr gut vorstellen. Was er ebenfalls hervorragend vermittelt, ist das Leben im Bürgerkrieg, wie entbehrungsreich es ist, wie ein Land und die Gesellschaft darunter verfällt und wie zerrissen die Menschen darin sind, auf einer Sinnsuche, welche die ganze Gesellschaft befallen hat und sich wie ein Riss durch die gesamte Bevölkerung zieht.
Immer wieder sind philosophische, politische und religiöse Überlegungen eingestreut. Besonders was den Wandel der Gesellschaft angeht, den Aufstand der Arbeiterklasse, die radikale Revolution, welche die Bolschewiki vorantrieben und den damit verbundenen Zwang die Ideologie der Partei ohne Hinterfragen zu übernehmen, das betrachtet Pasternak immer wieder und stellt diese Diktatur ganz klar in Frage. Dabei kritisiert er besonders die individuelle Aufopferung für die Gesellschaft. In diesem Zusammenhang ist die Arte Dokumentation eine wunderbare Ergänzung zur Lektüre. Dort erfährt man, was für eine politische Brisanz Pasternaks Roman hatte, gegen welche heftigen Widerstände er kämpfen musste, um diesen zu veröffentlichen.
Pasternak war von vornherein klar, dass dieses Buch in der Sowjetunion nicht veröffentlicht werden würde. Zahlreiche Autoren, auch gute Bekannte von Pasternak, wurden von dem Regime erschossen oder sie kamen diesem zuvor und brachten sich selbst um. Also schaffte er das Manuskript außer Landes und sorgte dafür, dass es Giangiacomo Feltrinelli, einem kommunistischen Verleger aus Mailand bekam. Dieser veröffentlichte das Buch schließlich 1957 in Italien, wobei die Sowjets ordentlich am Rad drehten und das unbedingt verhindern wollten. Die Regierung übte viel Druck auf Pasternak aus und wollte mit allen Mitteln die Veröffentlichung des Buches verhindern. Sie schickten gefälschte Telegramme an den italienischen Verleger, allerdings hatte Pasternak mit diesem vereinbart, dass nur französisch abgefasste Nachrichten Gültigkeit haben, was die Sowjets nicht wussten. So schickten sie russische Aufforderungen an Feltrinelli, die dieser trotz der Unterschrift Pasternaks als Fälschungen erkannte. Der US Geheimdienst CIA erkannte, was für politischer Sprengstoff dieses Buch war und wollte es als Waffe gegen die Sowjetunion einsetzen. Sie ließen das Buch in den Niederlanden in kleinem Taschenbuchformat drucken und im großen Stil nach Russland schmuggeln, um so die Bevölkerung zu beeinflussen und die kommunistische Ideologie zu schwächen.
Das Buch wurde in 18 Sprachen übersetzt und ein großer Erfolg und erschien überall auf der Welt. Erst 1988, drei Jahre vor Auflösung der Sowjetunion, wurde das Buch auch in Russland publiziert. 1958 bekam Pasternak den Nobelpreis für Literatur und erst 1989 konnte sein Sohn den Preis stellvertretend in Stockholm entgegen nehmen. Das Regime rächte sich an seiner Geliebten Olga Iwinskaja und Tochter die acht Jahre in ein Gulag, einem Arbeitslager, interniert wurden. Das Buch hat also eine bewegte Geschichte und wenn man sie kennt, blickt man mit etwas anderen Augen auf das Geschriebene.
Um all die Feinheiten zu erfassen, die dieses Buch ausmacht, müsste man es meines Erachtens mehrmals lesen. Gerade die Bezüge zu der Zeit, der Ideologie und die Brücke, die Pasternak mit dem Wesen und Charakter Juris und seiner Liebesgeschichte spannt, ist sehr fein und ich habe bemerkt, dass ich über einige Passagen zu schnell hinweg gelesen habe. Es treten viele unterschiedliche Figuren auf, die alle in Beziehung zueinander stehen, wovon manche nur am Rande erscheinen, aber durchaus einen Einfluss auf die Geschichte haben und in ihrer Rolle einen bestimmten Typ in der Gesellschaft repräsentieren. Das Buch ist also sehr gehaltvoll und bietet ein weites Spektrum um es zu betrachten, zu lesen und zu analysieren. Wobei ich sagen muss, dass es mir dazu dann nicht aufregend genug war und eine einzige Lektüre für mich ausreicht.
Was ich auf jeden Fall aber noch lesen werde, ist der Roman Alles, was wir sind von Lara Prescott, der erst vor Kurzem erschien. Laut Klappentext geht es darin um um die Veröffentlichung, die auch in der Arte Dokumentation thematisiert wird, wobei Prescott hier einen spannende Thriller aus dem Ganzen gemacht hat. Nachdem Pasternak für die Figur der Lara seiner Geliebten Olga Iwinskaja nachempfunden ist, hat das Thema durchaus Potenzial, zumal die Autorin scheinbar einiges an Rechercheaufwand investiert hat.
Meine Ausgabe von Doktor Schiwago ist von der Büchergilde und ist 1961 erschienen. Die erste deutsche Ausgabe erschien beim S. Fischer Verlag 1958 und laut den kleingedruckten rechtlichen Hinweisen, basiert mein Büchergilde-Buch genau auf dieser Erstausgabe. Wer also nicht viel ausgeben möchte, bekommt hier für weniger als vier Euro (und da ist der Versand schon drinnen) einen ordentlichen Klassiker, mit stabiler Fadenbindung und dicken Leineneinband. Besonders wenn es keine aktuelle hübsche Ausgabe gibt, mag ich so antiquarische Bücher ganz gerne. Wobei es überdurchschnittlich dick ist und mit den 660 Seiten eigentlich gar nicht so umfangreich ausfällt, wie es das Aussehen suggerieren möchte.
Fazit: Für sich genommen fand ich Doktor Schiwago ganz gut, aber das Buch hat mich nicht geflashed und konnte mich auch nicht durchgängig begeistern. Die großen Zeitsprünge und der szenenartige Aufbau haben bei mir immer wieder verhindert, dass ich mich so richtig in die Figuren einfühlen konnte. Erst die Liebesgeschichte, die ab der Mitte des Buches Fahrt aufnimmt, hat mir dann sehr gut gefallen. Der Blick auf die Natur, die Philosophie, Kunst und Liebe ist sprachlich wunderbar umgesetzt, während der Grundton des Buches eher schlicht ist. Die Darstellung der russischen Landschaft, die innere Zerrissenheit der Gesellschaft und der einzelnen Menschen im Bürgerkrieg und die Lebensumstände dieser Zeit werden hervorragend vermittelt und dargestellt. Wirklich faszinierend wird das Buch, wenn man es im Kontext der Zeit sieht, Hintergründe über seine Entstehungsgeschichte erfährt und Einblicke in Pasternaks Kampf mit sich und der Sowjetregierung bekommt. Für mich ist es kein Meisterwerk, aber dennoch sehr lesenswert und in Kombination mit der Arte Doku eine absolute Empfehlung.
Buchinformation: Doktor Schiwago • Boris Pasternak • Büchergilde • 664 Seiten • 1961, basiert auf Ausgabe von 1958 vom S. Fischer Verlag, Übersetzung: Reinhold von Walter
Nie hätte ich gedacht, noch einmal eine neue Besprechung des 1958 erschienenen „Doktor Schiwago“ – oder wie der Titel heute heißt, „Schiwago“ – zu lesen. Eines der Lieblingsbücher meiner Eltern und deren Generation. Die ’65er-Verfilmung mit Omar Sharif und Julie Christie ist Legende. Das war dann die Version, über die ich zum Buch kam, erkannte, dass sich die Handlung in Film und Roman teilweise erheblich unterscheiden.
Ähnlichen Erfolg als Buch sowie als Film hatte zuvor der Titel „Vom Winde verweht“, Kinostart in Deutschland 1953. Der Roman erschien bereits 1950 in Deutschland und wurde – auch dank Bertelsmann-Lesering – zu einem viel gelesenen Buch in Deutschland ( Die Auagabe des Leserings steht noch heute in meinem Bücherregel).
Vor zwei Wochen ist ein Buch der Großnichte Pasternaks erschienen, in der sie die Lebens- und Liebesgeschichte von Olga – der Frau, die LARA als Vorlage diente – niedergeschrieben hat (ISBN 978-3-442-71799-6). Das Buch hat es noch nicht vom Merkzettel in den Einkaufskorb geschafft, ich weiß also nicht, ob es hält was es verspricht.