Der Niemand von der »Narcissus« • Joseph Conrad

Ich bin ja eigentlich kein Sammler und mit Ausnahme von Büchern horte ich nicht irgendwelche Dinge. Und auch bei Büchern bin ich eigentlich niemand, der unbedingt alles von einer Reihe braucht. Eine Ausnahme sind hier die Klassiker aus dem Hause mare. Diese wunderschönen bibliophilen Bücher kommen immer mit einer herausragenden Ausstattung und überzeugen gleichzeitig immer mit ihrem Inhalt. Es sind immer Klassiker von großen Autoren, die einen starken Bezug zum Meer haben. Hier wurde ich noch nie enttäuscht und so habe ich jedes Buch, das bisher in der Reihe erschienen ist. Joseph Conrad konnte mich bisher nicht überzeugen und um so gespannter war ich, was für einen Roman der mare Verlag hier neu auflegt. Bisher konnte ich da blind vertrauen. Ob das auch für dieses Buch gilt, das erfahrt ihr in dieser Rezension.

Vom Inhalt liest sich das Buch schon einmal hervorragend und ist genau mein Beuteschema. Die Narcissus liegt in Indien vor Bombay im Hafen und startet die Heimreise über das Kap der Guten Hoffnung zurück in die Heimat nach England. Mit an Bord kommt auch James Wait, ein schwarzer Seemann. Die Reise beginnt und schnell stellt sich heraus, dass James Wait krank ist. Es dauert nicht lange und er vereinnahmt die Besatzung des Schiffes für sich und bringt die Harmonie an Bord ordentlich durcheinander.

Das Buch beginnt damit, wie die Besatzung erstmals das Schiff bezieht und Conrad beschreibt sehr stimmungsvoll, mit dem Blick fürs Detail, die einzelnen Seemänner, wie die ersten Stunden an Bord verlaufen, wie die Atmosphäre ist und wie die Reise beginnt. Das zeigt sehr schnell, dass Conrad genau Bescheid wusste und selbst mit der Seefahrt sehr vertraut gewesen sein musste. Auch der Moment, in dem die Narcissus ausläuft, ist wunderbar beschrieben. Genau so, wie ich das von den mare Klassikern gewohnt bin, ist in dem Buch auch eine ordentliche Brise Meer und als Leser habe ich sofort dieses Gefühl bekommen, dass mich bei allen Büchern der Reihe überkommen hat. Das ist ganz ähnlich wie bei der Lektüre des Romans Ned Myers: oder Ein Leben vor dem Mast. Das ist ebenfalls ein richtig schöner Roman über die Seefahrt im 19. Jahrhundert und entsprechend atmosphärisch dicht ist auch dieses neue Buch über die Reise der Narcissus, mit einem allgegenwärtigen Meer, mit Naturbeschreibungen, mit Licht- und Wetterszenen, die vor meinem geistigen Auge sehr visuell zum Leben erwacht sind.

Conrads Stil habe ich an vielen Stellen als sehr poetisch empfunden. Er hat einige lange, sehr schön formulierte Sätze. Besonders dann, wenn er den Himmel, das Meer und die ganze Stimmung beschreibt. Das hat mir richtig gut gefallen. Hier ein Beispiel für Sätze, die so immer wieder eingestreut sind:

Das Schiff fing an, in eine südwestliche Dünung zu tauchen, und der geschmeidig lichte Himmel der niedrigen Breitengrade nahm von Tag zu Tag über unseren Köpfen ein härteres Schimmern an: Vibrierend und fahl wölbte er sich über dem Schiff in die Höhe wie eine kolossale Stahlkuppe, in der die tiefe Stimme auffrischender Sturmwinde widerhallte. (S. 64)

Conrad beschreibt auch sehr schön die Seemänner, die verschiedenen Typen die es an Bord so gibt. Das Buch vermittelt die Seele der einfachen Seeleute, die sich tagtäglich abgerackert haben, die jeglicher Witterung getrotzt und täglich einer sehr harten Arbeit nachgegangen sind. Conrad gibt ihnen hier ein Denkmal und besonders der alte Matrose Singleton hat mir richtig gut gefallen. Ihn charakterisiert er richtig schön, mit allen Vorzügen, aber auch Schwächen, die ein Mensch in sich trägt, der sein ganzes Leben auf dem Meer verbracht hat. Und er macht das sprachgewaltig, abstrahiert und gibt den Menschen eine Bühne, die trotz ihrer einfachen und grobschlächtig wirkenden Art doch auch bewundernswert waren.

In Wahrheit aber waren sie Männer gewesen, die zwar Schufterei, Entbehrung, Gewalt und Verkommenheit, aber keine Angst gekannt und in ihrem Herzen kein boshaftes Verlangen verspürt hatten. Männer, die schwer zu lenken, aber leicht zu begeistern gewesen waren, wortkarge Männer, aber Manns genug, um in ihrem Herzen die sentimentalen Stimmen gering zu schätzen, die sich über die Härte ihres Schicksals beklagten.[…]Sie waren die immerwährenden Kinder des geheimnisvollen Meers.[…]sie waren abgenutzt, gebeugt und duldsam, wie steinerne Karyatiden, die in der Nacht die erleuchteten Säle eines prächtigen und ruhmreichen Bauwerks tragen. Es gibt sie nicht mehr – und das spielt keine Rolle. Meer und Erde sind ihren Kindern nicht treu: Eine Wahrheit, ein Glaube, eine Generation von Menschen vergeht – und ist vergessen, und das spielt keine Rolle. (S. 35f)

Stellenweise mutet der Roman wie ein Abenteuerroman an, verliert aber oft stark an Tempo und Conrad geht sehr ins Detail. Langsam erläutert er dann mit Vergleichen die Gedanken und Beweggründe der einzelnen Figuren. Das habe ich dann oft als etwas langatmig empfunden. Wie oben angedeutet, hat er auch wunderbare Sätze, poetisch und mit einer angenehmen Sprachmelodie. Gleichzeitig wirken seine Formulierungen aber auch oft sperrig und ich bin nicht so richtig in einen angenehmen Lesefluss gekommen. Das was Conrad schreibt, hat viel Tiefgang, ist dabei aber auch nicht leicht zugänglich und erfordert ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit, um seine Gedankengänge nachzuvollziehen und vollständig zu erfassen. Der Genuss schöner Sätze hat also durchaus seinen Preis.

Gerade die Elemente, die sehr abenteuerlich wirken, fand ich sehr gelungen. Das hat mich schon sehr gefesselt. Die Beweggründe der Figuren fand ich allerdings nicht immer schlüssig. Vielleicht ist das so möglich, was in dem Buch beschrieben wird, ich halte es aber eher für unwahrscheinlich. Wobei die Ursache für die Art zu handeln durchaus stimmig und nachvollziehbar ist. Vielleicht liegt das aber auch an mir oder auch dem zeitlichen Kontext. So richtig einen Draht habe ich nicht zu Conrads Gedankenwelt bekommen, das habe ich beim Lesen des Buches immer wieder gemerkt. Wobei ich aber dennoch die hohe Qualität des Geschriebenen geschätzt habe. Gleichzeitig habe ich aber auch gespürt, dass sehr viel in der Geschichte verborgen ist. Das Buch hat etwas Finsteres, Dystopisches und hat mich damit ein wenig an Kafka erinnert, wobei Conrad hier keine ganz so finstere Atmosphäre hervorruft.

Der eigentliche Akteur des Romans ist das Meer und das Schiff, die Narcissus. Und genau diese heimliche Hauptrolle, die das Meer hier einnimmt, ist der Grund dafür, dass es dieses Buch in die Reihe der mare Klassiker geschafft hat, denn das hat dieses Buch mit einigen anderen Romanen der Reihe gemein und das liebe ich jedes Mal aufs Neue. Auch wenn mich Conrads Message nicht erreicht hat, sind es genau diese maritimen Eindrücke, welche die Lektüre für mich lesenswert gemacht haben. Die Matrosen sind auf dem Vorderschiff untergebracht, einem Aufbau, der leicht gewölbt ist, damit das Wasser besser abfließen kann. Das sieht aus wie ein Rücken und daher werden die Matrosenunterkünfte auch Back genannt. Solche Details erfährt man in dem Buch und das Nachwort mit Erklärungen ist hier sehr hilfreich, was die nautischen Begriffe angeht. Gerade diese Detailverliebtheit geben dem Buch viel Authentizität.

Sehr interessant fand ich das informative Nachwort des Übersetzers Mirko Bonné. Hier erfährt man, dass Conrad selbst über zwanzig Jahre zur See gefahren ist. Als Schiffsjunge, Steward, Zweiter Offizier und später auch als Kapitän. Er hat sämtliche Kontinente bereist, war an der Küste Afrikas, Chinas und Südamerikas, er war in der Karibik, hat das Kap der Guten Hoffnung und auch das Kap Hoorn umrundet, hat den Sueskanal durchquert und war auf einem Flussdampfer im Kongo unterwegs. Kurzum: Conrad war ein waschechter Seemann. Im Jahre 1884 hat er tatsächlich auf einem englischen Klipper namens Narcissus angeheuert und auch dort war es die letzte Fahrt des Schiffes ehe es abgewrackt wurde. Die meisten Personen hat er tatsächlich der Besatzung der Narcissus nachempfunden (allen voran Singleton), aber Conrad hat damals schon klar gestellt, dass der Roman zwar Bezüge zur Realität hat, aber als rein fiktiv Geschichte ausgelegt ist. James Waits Vorlage war allerdings nicht Teil der Narcissus, sondern war Mitglied der Besatzung eines anderen Schiffs, mit dem Conrad, wie in dem Buch von Bombay nach England zurückgegehrt ist. Nach über zwanzig Jahren auf unzähligen Fahrten, erkrankte Conrad am Tropenfieber und musste seine Seemannslaufbahn aufgeben.

Joseph Conrad hieß eigentlich Józef Teodor Nałęcz Konrad Korzeniowski, wurde 1857 in Polen geboren und war Sohn von Landedelleuten. Der Niemand von der Narcissus erschien erstmals 1897 und zählt zu Conrads Frühwerk. Wenige Jahre später erschien Herz der Finsternis, das zu seinen bekanntesten Romanen zählt. Als Conrad Bekanntheit erreicht hatte, wurde sein Roman über die Narcissus sehr gerne gelesen, da es kurz war und als Abenteuerroman vermarktet wurde, wobei das aus meiner Sicht nur begrenzt der Fall ist.

Die erste Ausgabe erschien 1897 unter dem Titel The Children of the Sea. Erst viele Jahre später konnte Conrad für die US Ausgabe seinen eigentlichen Titel durchsetzen, der The Nigger of the „Narcissus“ hieß. Es hat mich nicht gewundert, dass der mare Verlag es nicht gewagt hat, den Originaltitel entsprechend zu übersetzen und auch im Text wurde, bis auf zwei Stellen, das Wort Nigger durchgängig anders übersetzt (meist mit schwarzer Mann). Ich habe mich gefragt, ob das gut oder schlecht ist. Mich stört Rassismus in Klassikern nicht, denn ich lege durchaus Wert darauf, einen möglichst unveränderten Text zu bekommen. Ich bin kein Rassist und meiner Ansicht nach ist es extrem unwahrscheinlich, dass nun jemand durch so eine Lektüre einer wird. Ich fand auch die Geschichte selbst hatte nur wenig Bezüge zu Rassismus. Ein Schwarzer in der Back hatte damals, zur Zeit der Kolonialisierung, keine Freunde. James Wait hat dies allerdings schon und auch wenn er durch sein Verhalten eine Sonderrolle in der Besatzung einnimmt, ist seine Hautfarbe selten ein Thema. Conrad argumentiert, dass er mit der Wortwahl das Seemanns-Argot wiedergeben und einen möglichst authentischen Text haben wollte. Immerhin ist der Roman in der Kolonialepoche angesiedelt. In der ersten Ausgabe konnte er allerdings das Wort Nigger nicht durchsetzen, denn der Verleger hatte die Befürchtung, dass die vorwiegend weißen Leser nicht unbedingt gerne etwas über Schwarze lesen wollten. Der diskriminierende Rassismus war für den Verlag damals zumindest nicht das Problem. Krege hat den Roman 1994 übersetzt und anstelle von Nigger das Wort Bimbo gewählt, was allerdings auch irgendwie nicht passt. Mirko Bonné argumentiert damit, dass der Vorgang des Übersetzens immer ein Tradeoff ist und das Wort Nigger besonders durch das NS Regime eine verstärkte Wirkung bekommen hat, die nicht zu dem ursprünglichen Text passt. Ich habe mich gefragt, wie die Reaktion wohl gewesen wäre, wenn der mare Verlag beim Originaltitel geblieben wäre. Die gewählte Lösung finde ich allerdings gut, alle Stellen im Text, in denen Bonné das Wort Nigger anders übersetzt hat, sind in den Anmerkungen gekennzeichnet. Ich kann mir gut vorstellen, dass Conrad hier keine rassistischen Absichten hatte, sondern es ihm um die raue Seemannssprache ging, die laut Bonné stellenweise wirklich schwer zu übersetzen ist. Im Deutschland 2020 mit seinem primären Exportgut der moralischen Bevormundung und seiner übermäßigen political correctness kommt man natürlich mit einem Nigger im Titel nicht durch, da ist ja schon Pippi Langstrumpfs Negerkönig ein Problem.

Die Ausgabe hat eine gewohnt hohe Qualität und ich rechne es dem mare Verlag hoch an, dass sie nicht zugunsten der Gewinnoptimierung an der Verarbeitung und Aufmachung der Bücher etwas ändern. Sie kommen immer mit einem sehr stabilen Leineneinband, einer Fadenheftung und einem hochwertigem Papier. Das Lesebändchen hat mir mit seiner Farbe richtig gut gefallen und harmoniert mit dem Einband und dem Vorsatzpapier wieder wunderbar. Auch die Schriftart ist einfach top. Insgesamt gibt es aber in der Reihe schönere Bücher, besonders das Bild auf dem Titel wirkt für meinen Geschmack etwas zu modern. Es ist aber ein Buch, das für die Ewigkeit gemacht ist und so stabil und wertig ist, das es wahrscheinlich die nächsten hundert Jahre locker durchhält. Haptisch ist es auf jeden Fall wieder ein Genuss und das sieht man auf den Bildern schon sofort, dass das einfach top ist.

Fazit: Joseph Conrads Roman Der Niemand von der »Narcissus« ist ein Buch, das mich mit seiner Brise Meer, den stimmungsvollen Szenen der Seefahrt und der poetischen Sprache begeistern konnte. So ganz erreicht mich Conrads Stil nicht und auch die Bedeutung des Romans ist bei mir nicht mit der Wucht angekommen, die darin spürbar verborgen liegt. Dennoch ist es ein wunderschönes Buch, von der Aufmachung, der hohen Qualität, den schönen Abenteuerelementen, seinem Tiefgang und dem allgegenwärtigen Meer. Ich liebe die mare Klassiker und auch hier kann man wieder bedenkenlos zugreifen.

Buchinformation: Der Niemand von der »Narcissus« • Joseph Conrad • mare Verlag • 256 Seiten • ISBN 9783866486126

6 Kommentare

  1. Eine sehr schöne Besprechung. Das Für und Wider in Bezug auf Conrad teile ich. Für mich gehen Political correctness-Änderungen (= Verfälschungen) in der Literatur gar nicht, deshalb werde ich die mare-Version nicht anrühren, ich habe aber eine ältere Übersetzung. Bücher sind immer auch Dokumente ihrer Zeit. Sie nachträglich zu schönen ist eine Bevormundung der Leser. Gut dass man bei mare immerhin die entsprechenden Stellen gekennzeichnet hat.

    1. Lieber Lucien,

      ich sehe das ganz ähnlich, ich bevorzuge auch immer eine Übersetzung die möglichst nahe am Original ist und nicht zugunsten zeitgenössischer Weltanschauungen verändert wurde. Bei diesem Buch kann ich die Entscheidung aber schon nachvollziehen. „Nigger“ ist ein Wort, das zu Conrads Zeiten keine so starke Wirkung hatte wie dieser Tage und ist wohl tatsächlich mit „schwarzer Mann“ vergleichbar, das zwar klar diskriminierend den Rassenunterschied adressiert, aber auf einem Aggressionsniveau, das dem damaligen „Nigger“ gleich kommt. Dass diese Anpassungen dokumentiert werden fand ich auch sehr wichtig. Ich glaube also nicht, dass political correctness hier der alleinige Auslöser für die Anpassung war. Gerade bei Klassiker kann man sich hier aber schon aus dem Fenster lehnen. Ich glaube eben nicht, dass dieses Buch, egal mit welcher Wortwahl, einen bedeutenden Einfluss auf die politische Gesinnung eines Lesers hat.

      Herzlichen Dank auf jeden Fall für Dein Kommentar, sehr interessant zu lesen, wie das andere sehen und dass ich da mit meiner Einstellung nicht ganz alleine bin.

      Liebe Grüße
      Tobi

  2. Huhu, sehr schade, dass du Conrad nicht so für dich entdecken konntest. Ich liebe ihn ja sehr und habe jedes Buch so genossen. Seine Gedanken und die Art und Weise, wie er schreibt, waren für mich großes Lesevergnügen und mit seiner düsteren Atmosphäre, die seine Lektüre oftmals schmückt, hat er zumindest bei mir voll ins Schwarze getroffen.

    Lg Tinka

    1. Liebe Tinka,

      ich kann sehr gut nachvollziehen, dass Du von dem Buch und auch von Conrad eine andere Meinung hast. Beim Lesen spürt man einfach, welchen Ausdruck und welche Stimmung Conrad heraufbeschwören möchte und was ihm auch meisterhaft gelingt. Das muss einem dann auch zusagen und den Nerv bei einem treffen. Da kann ich mir gut vorstellen, dass das vielen sehr gut gefällt. Ganz ähnlich zu Kafka, dessen Kunst zu schreiben absolut beeindruckend ist, aber der mit seiner ebenfalls sehr düsteren und oft beklemmenden Atmosphäre mir dann auch immer zu viel ist. Hast Du genau diesen Roman auch schon gelesen?

      Vielen Dank auf jeden Fall für Deinen Kommentar. Das ist natürlich spannend zu sehen, dass Conrad durchaus Leser mit diesem Stil anspricht.

      Liebe Grüße
      Tobi

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