Der Wanderer auf dem Eis • Volter Kilpi

Ende letzten Jahres sind zwei Bücher des finnischen Autoren Volter Kilpi im Programm des Mare Verlags erschienen. Einmal die kleine Sammlung von drei Erzählungen, Der Wanderer auf dem Eis, worum es in diesem Beitrag geht und der umfangreiche Roman Im Saal von Alastalo. Bevor ich mich an seinen dicken Epos heranwage, wollte ich zuerst mit den Erzählungen anlesen, wie gut mit Kilpis Stil und Art zu schreiben gefällt. Meine Eindrücke von dem kleinen Buch schildere ich euch in diesem Beitrag.

Die drei Erzählungen in dem Buch handeln von Bewohnern der finnischen Schäreninseln. Während seine umfangreichen Romane den Fokus auf die großen und reichen Menschen der Schärengemeinschaft haben, beschäftigt sich dieser Erzählband mit drei Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen, verarmt sind und auf ein beschwerliches Leben zurück blicken. In der ersten Geschichte Der Wanderer auf dem Eis geht es um einen alten einfachen Fischer, der Wacholderholz auf einem Schlitten gesammelt hat und sich auf den beschwerlichen Heimweg über das gefrorene Meer macht. Dabei erinnert er sich an sein Leben, das von harter Arbeit und zerrütteten Familienverhältnissen erzählt. Die zweite Geschichte Lundström von Kaaskeri handelt von einem gescheiterten Kapitän, der ebenfalls einen Einblick in seinen Werdegang gibt, aber auch von seinem kargen Leben als Hauslehrer berichtet. Die Seemannswitwe erzählt schließlich, auch hier rückblickend, vom Leben einer alten Frau, die in mittlerem Alter ihren Ehemann verloren hat und seitdem ein armes und einsames Leben führt.

Am gelungensten fand ich die erste Geschichte Der Wanderer auf dem Eis. Alle drei Kurzgeschichten haben aber das gleiche Thema und beschäftigen sich mit der Armut, dem harten Leben der Figuren, geben aber auch einen eindringlichen Einblick in den Alltag und insbesondere auch das Denken dieser Menschen. Man spürt beim Lesen die Vergänglichkeit des Lebens, man fühlt, wie bitter der Blick auf die verstrichenen Tage dieser drei Schärenbewohner ist und die Einsamkeit dieser alten Menschen breitet sich wie ein schwerer Mantel auf jede der einzelnen Erzählungen. Mich hat das bei Lesen dann sehr bewegt und mit Schwermut erfüllt, denn es zeigt einmal mehr, wie schwer es viele Menschen hatten und wie grausam, abseits der großen Katastrophen der Zeitgeschichte, die in der Literatur überdurchschnittlich viel Aufmerksamkeit bekommen, der gleichmäßige Fluss eines Menschenlebens sein kann.

Als ich den Klappentext und die Leseprobe von dem großen Roman Im Saal von Alastalo gelesen habe, da hat mich das sofort an Horcynus Orca erinnert. Das Buch habe ich vor Jahren gelesen und auch besprochen und so wie Kilpi beworben wurde, als ein finnischer Joyce oder Proust, da habe ich mich gefragt, ob nicht nur das Thema, nicht nur der kulturelle Blick, sondern auch die Sprache sich so auszeichnen würde, dass er in diese Kategorie fällt. Die Erzählungen deuten es auf jeden Fall an und es ist gerade die Stimme, die Kilpi beim Lesen in den Gedanken erklingen lässt, die sehr bemerkenswert ist. Es entsteht ein Lesefluss, der geprägt ist, von dem Denken der Figuren, der durchsetzt ist mit ihren eigenen Worten, mit Gedanken die springen, die um Dinge kreisen, so wie man sie selbst denken würde. Allerdings ohne diese Übertreibung der Technik des Gedankenstroms, sondern trotzdem noch sehr fokussiert und einer Erzählung entsprechend, so dass sich der Text angenehm lesen lässt. Einige Sätze sind dabei, die richtig gut, richtig gelungen sind, die ich mehrfach lesen musste, weil sie einfach wunderbar sind. Diese Sätze, die sich auch mal über eine ganze Seite erstrecken, die haben mich sehr an Horcynus Orca erinnert, weil sie fließen, weil sie heranbranden, wie das Meer, voll mit Gefühl, mit wunderschönen Vergleichen, bildhaft und wohlklingend. Als Beispiel will ich einen nicht ganz so langen Satz hier einfügen, weil er auch den Inhalt der Geschichten so schön widerspiegelt und den angenehmen schönen Klang hat, dem ich mich nicht entziehen kann.

Die Tage vergingen, die Jahre verstrichen. Die Tage, die kühle Helle der Morgen, das flirrende Blau des Mittags, das herrliche Schwinden der Abende: wie das goldene Gewebe eines einzigen langen Sonnentages der ganze Glanz des Lebens und die funkelnde Erinnerung. (S. 32)

Was diesem kleinen Erzählband und sicher auch dem großen Roman Kilpis zusätzliches Gewicht gibt, ist die Darstellung der Kultur der finnischen Schäreninselbewohner. Auch dahingehend hat mich das Buch an Horcynus Orca erinnert, wo ein Portrait der sizilianischen Fischer, der Pellisquadre gegeben wird. Das passiert in diesem Buch ebenfalls und zwar primär anhand der vielen kleinen Details, die beschrieben werden, wie die Darstellungen der einfachen Behausungen, dem Handwerk, wenn beispielsweise der Protagonist Wacholderholz sammelt, um diese während des langen Winters zu Holznägel zu schnitzen, welche dann wiederum für den Schiffsbau verwendet werden. Ganz deutlich kristallisiert sich dies aber in der Stimme, mit der Kilpi seine Charaktere denken lässt und die sich ganz stark aus dem Denken der Figuren ergibt. Und hier ist der Vergleich aus dem Klappentext mit Joyce und Proust sehr treffend, denn dadurch, dass der Leser die Welt der Schäreninseln anhand dem Prozess des Erinnerns der Figuren erfährt, schleicht sich hier doch die Technik des Gedankenstroms mit ein.

Der Autor Volter Kilpi war mir bisher völlig unbekannt und für mich kennzeichnet das die richtig guten Verlage, dass sie solche Autoren und Erzählungen entdecken und neu zugänglich machen. Kilpi wurde 1874 in Kustavi, einer Schärengemeinde im südwesten der finnischen Schäreninseln geboren. Er war der Sohn eines Kapitäns und hat so schon früh von seinem Vater zahlreiche Geschichten aufgeschnappt, die er dann literarisch verarbeitet hat. Kilpi selbst wurde kein Seefahrer, sondern studierte in Helsinki und wurde Bibliothekar und war schon früh als Autor aktiv. Nach über dreißig Jahren Pause veröffentlichte er dann Im Saal von Alastalo und gilt mittlerweile als einer der bedeutendsten Autoren Finnlands. Seine Erzählungen sind in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts angesiedelt, was mich bezüglich seines Geburtsjahrs ein wenig überrascht hat, aber vermutlich hat sich zu den Jahren seiner Kindheit und Jugend sich die Gemeinde nur mäßig verändert.

Das Büchlein selbst ist aus der kleinen Mare-Klassiker Reihe und sieht mit seinem schlicht bedruckten Leineneinband wieder sehr schön aus und fühlt sich wieder sehr gut an. Insbesondere auch das weiche Papier ist beim Lesen einfach ein Genuss. Das Buch hat ein Lesebändchen und einen kleinen Schuber, der an beiden Seiten offen ist. Gegenüber den großen Mare Klassikern fehlt eine Fadenheftung, aber ansonsten ist es wieder sehr gelungen und hochwertig verarbeitet, also auch als besonderes Geschenk sehr gut geeignet. Die Übersetzung von Stefan Moster ist sehr solide und liest sich angenehm, ebenso wie das Nachwort, welches einen guten kurzen Einblick in den Lebenslauf des Autorens und seinem Schaffen gibt.

Fazit: Volter Kilpi, der mir bisher völlig unbekannt war, zu entdecken, sein Werk neu in so hervorragender Qualität zu verlegen, das macht einen richtig guten Verlag aus und ist dem Mare Verlag wieder sehr gut gelungen. Die drei Erzählungen geben dem Leser nicht nur einen guten Einblick in das Schaffen des Autoren, sondern machen mit einer eindrucksvollen Erzählkunst die damalige Gesellschaft der Schäreninseln zugänglich. Die drei Geschichten portraitieren Außenseiter der damals in der Seefahrt erfolgreichen Gemeinde und lassen den Leser in die Gedankenwelt der Figuren eintauchen, die dabei einen Rückblick auf ihr hartes und entbehrungsreiches Leben gibt. Mich konnte das sowohl sprachlich, als auch von dem kulturellen Einblick sehr beeindrucken. Kilpi mit den großen Autoren der Moderne gleich zu setzen ist absolut gerechtfertigt, das merkt man beim Lesen schon nach wenigen Zeilen. Die schöne Aufmachung des Büchleins mit dem hochwertigen Leineneinband, Lesebändchen, dem angenehm weichen Papier und dem Schuber, machen das Buch wieder zu einem kleinen Kunstwerk, das ich sehr empfehlen kann.

Buchinformation: Der Wanderer auf dem Eis • Volter Kilpi • mare Verlag • 256 Seiten • ISBN 9783866486645

1 Kommentar

  1. Ich habe gleich mit dem dicken Wälzer angefangen und bin, wie in dieser Rezension beschrieben, fasziniert von der Intensität der Schreibe. Viele Sätze lese ich mehrmals, nicht um sie zu verstehen sondern um sie zu geniessen. Ich freue mich jeden Tag auf die Lektüre – nehme mir aber nie mehr als ein paar Seiten vor, denn danach sinkt meine Konzentrationsfähigkeit. Und es ist einfach zu schade, die kunstvoll und mit viel Hintersinn geschriebenen Sätze einfach zu konsumieren.
    Schade nur, dass das Buch – anders als der hier besprochene Band – durch sein Volumen recht unhandlich und deshalb schwer im Sessel zu lesen ist.

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