Lolita • Vladimir Nabokov

Mit Lolita kann jeder irgendwie etwas anfangen, hat den Titel des Buches schon gehört, oder auch den Namen irgendwo anders aufgeschnappt. Aber ich würde vermuten, dass nur wenige das Buch auch wirklich gelesen haben. Die Assoziation ist zumeist ein frühreifes verführerisches Mädchen. Der Roman von Nabokov war ein Skandal, hat polarisiert und weckt auch dieser Tage noch zahlreiche Emotionen. Ich würde sagen, das Buch ist die bekannte Axt von Kafka, die das gefrorene Meer im Leser durchschlägt und das keinen unberührt lässt. Mich hat es hinsichtlich seiner Vielschichtigkeit und dem differenzierten Bild überrascht und schnell in seinen Bann gezogen. Es ist mitnichten eine frivole oder rein provozierende Geschichte. Dem Leser erwartet hier ganz große Literatur. Lest weiter, um zu erfahren, warum ihr das Buch einfach unbedingt lesen müsst.
Die Hauptfigur Humbert erzählt in diesem Roman, aus der Ich-Perspektive, wie er eine obsessive und sexuelle Beziehung zu der zwölfjährigen Lolita aufbaut und auslebt. Er richtet sich mit diesem Bericht an fiktive Geschworene, wobei Humbert sein Handeln rechtfertigen und sich in einem besseren Licht darstellen möchte. Der Leser wird also Zeuge von Humberts Pädophilie, von seinen Emotionen, seinen Gedanken, davon wie er sich Lolita annähert, wie er sie missbraucht und was für ein Leben er schließlich mit ihr führt.

Nach wenigen Kapiteln war für mich klar, dass dieses Buch ein Meisterwerk ist. Aus zahlreichen Gründen. Als Leser bekommt man einen tiefen Einblick in Humberts Gedanken. Er beschreibt, wie er sich zu Kindern hingezogen fühlt und differenziert hier und bezeichnet bestimmte Mädchen, die ihm körperlich besonders zusagen, als Nymphetten. Dabei handelt es sich um Mädchen zwischen neun bis vierzehn Jahren, die er besonders anziehend findet und aus seiner Sicht eine perfekte Mischung zwischen sinnlicher Reizbarkeit und kindlicher Unschuld besitzen. Durch einen Zufall trifft er auf Lolita, die ihm eine perfekte Nymphette scheint. Das Besondere dabei ist für mich, dass es für den Leser einfach nachvollziehbar wird, was in Humbert vor sich geht. Geht man gedanklich diesen Schritt (auch wenn es wirklich schwer ist) und akzeptiert diese sexuelle Obsession, dann macht das alles einfach Sinn, dann ist das stimmig, was Nabokov hier darstellt. Dadurch das Humbert den Leser für sich gewinnen möchte, ist er einem auch nicht völlig unsympathisch. Das hat mich sehr fasziniert, denn es ist keine plumpe oder provozierende Darstellung eines gewissenlosen oder emotionslosen Perversen. Humbert ist belesen, hat eine schöne und angenehme Sprache, er ist gebildet, er bringt seine Gefühle auf vielschichtige Weise zum Ausdruck, er weiß auch darum, wie verwerflich er ist und durch diese Reflektion wirkt er menschlich.
Wer weiß, vielleicht beruht die Anziehungskraft, die die Unreife für mich besitzt, nicht so sehr auf dem offenbaren Liebreiz reiner, junger, verbotener Feenkindschönheit als vielmehr auf der Sicherheit einer Situation, in der grenzenlose Vollkommenheiten die Lücke zwischen dem kleinen Gegebenen und dem großen Verheißenen ausfüllen – dem großen rosagrauen Nie-zu-Erlangenden.
Seite 435f
Was für mich die Lektüre zusätzlich faszinierend gemacht hat, war eine gewisse Dissonanz, die in meiner Vorstellung immer wieder entstanden ist. Er beschreibt die körperlichen Attribute von Lolita, beispielsweise gibt es eine gelungene Passage, wo er sie beim Tennisspiel beschreibt. Mein Verstand ist einfach nicht in der Lage sich ein Mädchen als sexuell anziehend vorzustellen. Das geht einfach nicht, das ist ein loses Ende, da sind einfach keine Neuronen im Gehirn, das läuft völlig ins Leere. Allerdings sind die Attribute, die er beschreibt, ja durchaus universell. Beispielsweise schönes üppiges Haar, anziehende Bewegungen, jugendliche Haut und ähnliche Dinge. Dadurch habe ich aber in meiner Vorstellung immer ein Bild von einer attraktiven jungen Frau gehabt und nicht von einem Mädchen. Dann gibt es aber Passagen, wo dem Leser unmissverständlich klar wird, dass es ein Kind ist. Und dann gab es in meiner Vorstellung immer den Shift zurück, dann wurde diese Diskrepanz richtig deutlich spürbar und das ist dann jedes Mal wie eine kalte Dusche. Ein faszinierendes Element, das ich so in noch keinem Roman angetroffen habe.

Was die Wirkung des Romans verstärkt ist die Sprache. Es sind schöne Sätze, das ist einfach gut geschrieben und auch die Umschreibungen wirken deutlich und stark in der Vorstellung des Lesers. Wobei Nabokov keinerlei vulgäre oder explizite Szenen beschreibt. Er bleibt immer bei Andeutungen, bei Umschreibungen, die eindeutig klar machen, was passiert, aber nie den Missbrauch in aller Detailfülle darstellen. Darum war ich Nabokov sehr dankbar, denn alleine dadurch wird der Leser an zahlreichen Stellen schon extrem abgestoßen.
Nabokov hat den Roman mit unzähligen Bezügen und Anspielungen angereichert. Meine Ausgabe hat zahlreiche Anmerkungen und das hat die Lektüre zuweilen etwas mühsam gemacht. Es ist beeindruckend, was Nabokov in das Buch eingearbeitet hat und da merkt man einfach seinen Hintergrund als Literaturwissenschaftler und auch seine Begeisterung für James Joyce, der das in seinem Ulysses in übertriebener Form gemacht hatte. Gleichzeitig macht das den Text auch etwas schwerer zugänglich. Sehr gelungen finde ich die Bezüge zu Poe, zu Mérimées Carmen oder auch Elemente, wo er seinen Namen als Anagramm eingearbeitet hat, da er angenommen hatte, das Buch anonym veröffentlichen zu müssen. Allerdings habe ich das Buch an einigen Stellen als zu umfangreich empfunden. Wenn er detailliert Reiserouten und Orte beschreibt, bringt das die Geschichte nicht sonderlich voran. Da hätte man den ganzen Text ohne große Verluste noch eindampfen können.
Ein weiteres wirklich meisterhaftes Element, das diesen Roman auszeichnet, ist die Unzuverlässigkeit des Erzählers. Humbert möchte sich gegenüber dem Gericht und den Geschworenen rechtfertigen, er möchte sich in einem guten Licht darstellen und beschönigt seinen Bericht und versucht sich so menschlich wie möglich darzustellen. Gerade zu Beginn gelingt das sehr gut. Aber um so weiter der Roman voranschreitet wird dem Leser deutlich bewusst, wie verzerrt diese Darstellung ist. Ein Beispiel ist eine Erklärung, die er als Ursache für seine Pädophilie geben möchte. Er bezieht sich auf ein Erlebnis in seiner Adoleszenz, in der eine erste Liebe zu einem gleichaltrigen jungen Mädchen auf tragische Weise unerfüllt blieb. Er betont ihre Ähnlichkeit mit Lolita und möchte so den Leser für sich einnehmen. Erst viel später bezieht er sich wieder darauf und relativiert diesen Bezug, wenn er schreibt: „Genug von jenen speziellen Empfindungen, die von den Lehrsätzen der modernen Psychiatrie beeinflusst, wenn nicht gar hervorgebracht worden sind.“ (S. 275). Das passiert im Roman immer wieder und dem Leser wird immer deutlicher klar, dass Humbert nicht zu trauen ist.

Humberts Leidenschaft legt sich wie ein Tuch über die Handlung und darunter blitzt die Realität im Verlauf immer deutlicher hervor. Es sind die kleinen Erwähnungen, die ihn verraten und die klar machen, wie stark Lolita unter dieser Situation leidet. Auf eine Weise, wie nur Kinder leiden können, die aufgrund ihrer Abhängigkeit einer Situation ausgeliefert sind und sich aus dieser nicht befreien können. Die Grausamkeit darin, die hat mich immer wieder schockiert. Die schönste Sprache, alle Mittel um irgendwie Sympathie zu wecken, der Blick in seine feinsinnigen Gedanken, all das verfängt sich nicht und im Verlauf wird klar, wie rücksichtslos er seine Ziele verfolgt. Gerade das macht diesen Roman so authentisch und glaubwürdig. Diese Nuancen, die zahlreichen Emotionen die deutlich werden, manchmal umfangreich ausgeführt, manchmal nur angedeutet durch eine kurze Szene oder Aussage, diese ganze Vielschichtigkeit. Man könnte den Roman mehrfach lesen und würde immer wieder neue Aussagen, Gedanken, Gefühle oder Bezüge darin entdecken. Der Roman hat eine faszinierende Tiefe, die genau darin zu finden ist.
Vladimir Nabokov wurde 1899 in Sankt Petersburg geboren und musste 1917 mit seiner Familie aus Russland fliehen. Er selbst erlebte eine wunderschöne und erfüllte Kindheit in einem wohlhabenden Umfeld, was ganz im Kontrast zu seiner Lolita steht. Seine schriftstellerische Laufbahn begann in Berlin, aus dem er nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten erneut mit seiner jüdischen Frau fliehen musste und schließlich in die Vereinigten Staaten emigrierte. Er lehrte dort an verschiedenen Universitäten. Als Lolita erschien war er bereits ein erfahrener Autor und konnte auf zahlreiche Publikationen zurückblicken. Lolita löste seinerzeit einen Skandal aus und das verhalf unter anderem dem Buch zu einem kommerziellen Erfolg und machte Nabokov finanziell unabhängig. Der Literaturwissenschaftler und leidenschaftliche Schmetterlingsforscher starb 1977 in der Schweiz.

Ich habe die Ausgabe vom Rowohlt Verlag gewählt, die zwar sehr teuer ist, aber schön gebunden, mit Fadenheftung und Lesebändchen ausgestattet ist. Die Umschlaggestaltung ist zwar sehr schnöde, aber das Buch ist hervorragend verarbeitet. Die Qualität der Übersetzung ist hervorragend und die zahlreichen Anmerkungen geben wichtige und gute Erklärungen. Nabokov hat das Buch ursprünglich in Englisch verfasst. In einem Interview erwähnt er, dass er sich große Sorgen macht, dass das Buch in einer zu schlechten Qualität in seine russische Muttersprache übersetzt wird. Also hat er sich dazu entschlossen den Roman selbst zu übersetzen, was er 1967 auch gemacht hat. Diese Ausgabe enthält Nabokovs Nachworte der englischen und russischen Ausgabe, die wirklich sehr interessant zu lesen waren. Zudem enthalten die Anmerkungen die Unterschiede zur russischen Ausgabe, was teilweise wirklich aufschlussreich war, da die russische Ausgabe oftmals eindeutigere Formulierungen hat.
Es gibt eine wunderbare und hervorragend recherchierte Dokumentation von Arte mit dem Titel Die Wahrheit über Lolita. Leider ist sie aktuell online nicht verfügbar. Wer aber die zurückgebliebenen öffentlich Rechtlichen kennt, der weiß, das die Dokumentation gewiss bald wieder auftauchen wird. Wer diesem Roman etwas abgewinnen kann, der sollte sich die Doku unbedingt ansehen. Ich fand sie sehr informativ und hervorragend gemacht. Dort wird besonders die Missinterpretation thematisiert, die Lolita als Verführerin inszeniert, was für mich völlig absurd ist. Lolita ist ein vergewaltigtes Kind und wer dieses Buch dieser Tage liest, der stößt eigentlich nur auf die Pädophilie und nichts weiter. Es ist faszinierend, wie sich in der Rezeption des Buches der Zeitgeist widerspiegelt. Ist es damit nicht aktueller den je?
Fazit: Lolita von Nabokov ist aus mehreren Gründen ein Meisterwerk. Als Leser taucht man in die Gedankenwelt eines intelligenten, empfindsamen und gebildeten Mannes ein, der zugleich mit seiner Pädophilie in extremen Maße abstoßend ist. Dennoch werden seine Emotionen und Überlegungen für den Leser nachvollziehbar und sind auf eine erschreckende Weise konsistent. Kunstvoll hat hier Nabokov mit viel Tiefe, Geist und zahlreichen literarischen Andeutungen eine Beziehung portraitiert, die grausam ist, die den Missbrauch an ein Kind darstellt und dennoch nicht vulgär oder oberflächlich ist. Der Protagonist versucht den Leser für sich zu gewinnen und gerade die Tatsache, dass er sich in einem guten Licht darstellen und seine Tat rechtfertigen möchte, gibt der Geschichte eine weitere Ebene. Als Leser nimmt man all die Unstimmigkeiten zwischen den Zeilen wahr und erahnt im Verlauf des Romans was unter dem dünnen geschönten Firnis von Emotionen für eine Grausamkeit gegenüber einem Kind ausgeübt wird. Ein Buch, das mich fasziniert hat, das ich schwer aus der Hand legen konnte und das noch lange nachhallt. Die solide Ausgabe vom Rowohlt Verlag ist sehr wertig und kommt mit vielen Anmerkungen und Nachworten, die ich als sehr bereichernd empfunden habe. Ein wunderbares Buch, ein Meisterwerk, eine Lektüre, die mit dem Leser genau das macht, was ein Buch machen soll.
Buchinformation: Lolita • Vladimir Nabokov • Rowohlt Verlag • 720 Seiten • ISBN 9783498046460
Als weiterführende Lektüre empfehle ich „LOLITA LESEN IN TEHERAN“, eine Auseinandersetzung nicht nur mit dem immergrünen Thema „Frauen und Männer“ (z.B. Mullahs), sondern auch mit dem gerade in Deutschland hochaktuellen Thema Meinungs- und Informationsfreiheit.