Horcynus Orca • Stefano D’Arrigo

Im Rahmen der Blogpatenschaft der Leipziger Buchmesse hat Horcynus Orca in der Bloggerwelt bereits für ein gewisses Maß an Aufsehen gesorgt. Ich bin schon vorher auf diesen erstmals in eine andere Sprache übersetzten Klassiker gestoßen und mich gefragt, was sich hinter diesem Buch wohl verbirgt.

Das hier wird wohl die umfangreichste Rezension, die ich hier bisher geschrieben habe. Horcynus Orca habe ich sehr intensiv gelesen, ich bin mit Haut und Haaren in dieses Buch eingetaucht und mit so vielen Eindrücken daraus zurückgekehrt, dass ich euch einiges darüber berichten möchte. Ich bitte also um Nachsicht, dass dieser Beitrag so umfangreich geworden ist. Aber mittlerweile schreibe ich schon über einen Monat immer wieder daran, da kommen viele Eindrücke zusammen.

Horcynus Orca von Stefano D'Arrigo

Hier seht ihr ein Bild von meinem Buch und die vielen Stellen mit wirklich großartigen Sätzen, die ich mir markiert habe. Ich schreibe mir gute Sätze immer nochmal ab und bei diesem Buch sind es mehrere Seiten.

Das Buch handelt von den Pellisquadre, den Fischern von Sizilien. Genauer den Fischern von Charybdis, an der Meerenge zwischen Kalabrien und Sizilien, dort wo das Tyrrhenisches Meer und das Ionische Meer durch die schmale Straße von Messina miteinander verbunden sind. Einer sagenumwobenen Region und damit ein hervorragender Handlungsort für einen Epos über das Meer.

Dieser Roman galt lange Zeit als nicht übersetzbar, bis Moshe Kahn, eine Koryphäe in der Übersetzerszene, sich diesem Werk angenommen und es vom sizilianischen Italienisch in das Deutsche übertragen hat. Mit 1500 Seiten im Dünnpapierdruck, dicht beschrieben und mit 1,5 kg Eigengewicht ist das Buch in physischen, als auch im übertragenen Sinne alles andere als eine leichtgewichtige Lektüre für zwischendurch. Sowohl sprachlich als auch hinsichtlich seines Inhalts ist dieser Roman anspruchsvoll und seine Lektüre erschließt nur dem Leser eine großartige und wortgewaltige Welt, der sich diesem mit einem gewissen Maß an Hingabe widmet. Was das bedeutet, das will ich in dieser Rezension näher erläutern.

Horcynus Orca ist ein Buch, das sich dem Leser nicht sofort offenbart, das sich nicht aufdrängt und schon gar nicht gefällig ist. Eine Eigenschaft, die aktuelle Werke meist in üppiger Form bieten, mit diesem Buch hat man eine Geschichte in den Händen, die entdeckt werden muss, in die der Leser eintauchen muss und sich gedanklich auf den Protagonisten, aber auch auf die oft sehr fremdartig erscheinenden Figuren einstellen muss. Ich habe eine deutliche kulturelle Kluft beim Lesen gespürt, die daher rührt, dass die Menschen darin eine oft völlig andere Art zu denken haben. Das Meer und das hohe Maß an Zugehörigkeit, das diese Menschen diesem gegenüber empfinden, das schafft auch eine andere Art zu denken und zu fühlen. So muten die Aussagen, das Verhalten und die Handlungsweisen der Fischer oder beispielsweise der Feminoten oft etwas seltsam an. Das macht einen gewissen Reiz aus, denn es ist ein Abenteuer für sich in eine vollständig andere Wahrnehmung vorzudringen und wenn man tief genug in die Erzählungen der Figuren eintaucht, dann beginnt man diese langsam zu verstehen.

Das Buch bedient sich einer ganz eigenen, unüblichen und kunstvollen Sprache. Dies ist eine Besonderheit und hat D’Arrigo durchaus auch Kritik eingebracht. Eine Übersetzung war daher sehr problematisch, scheinbar nicht möglich und so hat Moshe Kahn, der Übersetzer, das Buch in über 10 Jahren Arbeit nachgebildet, umgestaltet, es gelegentlich vom Original entfernt, um ähnliche Wirkungen hervorzurufen (vgl. Nachwort des Übersetzers ab Seite 1461). Den Erfolg dieses Vorhabens objektiv zu beurteilen obliegt wohl nur jenen, die das Buch im Original gelesen haben. Was hat diese ganz eigene und einzigartige Poesie aber nun für mich als Leser bedeutet? Einem Leser, der die Wirkung der Sätze, die Melodie darin nur fühlt und nicht mit einem wissenschaftlich geprägten Blick die vielen sprachlichen Elemente des „annähernd zwei Jahrtausende hinweg allmählich zu den Sprachformen des italienischen Südens“ (S.1467) geformten Sizilianisch wiederentdeckt. Zum einen musste ich erst in die eigene, mir völlig neue Sprache eintauchen. Ich habe die ersten 50 Seiten gelesen und dann habe ich sie noch einmal gelesen. Erst ab Seite 100, für die ich dann dreimal so lange gebraucht habe, wie gewöhnlich, bin ich auf sprachlicher Ebene in diesem Epos angekommen. Mich hat das ein wenig an den Genuss klassischer Musik erinnert. Man muss sie öfter hören, ihr Grundthema kennenlernen und wenn man eine Ahnung hat, welche Töne erklingen werden, dann kann man sich daran erfreuen, dass sie es immer wieder eben nicht tun, einen überraschen, aber dennoch in greifbarer Nähe bleiben. Genau so ist dieser Text auch. Irgendwann wird man erfasst, von einem Sog, der einen in dieses Buch hinein zieht, denn die Sätze haben eine ganz eigene Melodie. Warum ist das so? Ich vermute dahinter zwei Gründe. Zum einen ist da immer und überall das Meer. Metaphorisch, als Kulisse, als absolut grundlegende Basis für das Denken von ‚Ndrja und den Menschen, denen er begegnet. Ein zweiter Grund ist der Krieg und die Vehemenz, die Kompromisslosigkeit, das Unvorstellbare, das damit Einzug in das Leben der Menschen erhält und es gäbe keine eindrucksvollere, keine deutlichere und keine erschreckendere Weise dies durch die donnernde, sich in entsetzlicher Ruhe wiederholenden Brandung der fließenden Sprache zu vermitteln. Einige Male musste ich angesichts dieser Formulierungen erschrocken innehalten. Hier ein Zitat in dem von den Feminotinnen berichtet wird, selbstbewussten, ruppigen und selbstbestimmten Fischersfrauen, die sich mit dem Schmuggel von Salz und mit viel, manchmal fast nihilistisch anmutenden Pragmatismus über Wasser halten:

Sie dort zu sehen, sollte er sich vorstellen, sagte der Alte zu ihm, dabei die Augen zusammenkneifen, so, als würde er sie schärfen und auf diese ausgestreckt daliegenden prachtvollen Weiber werfen, sie dort in ihrer olympischen Ruhe sehen und bewundern, die sie in diesen Endzeitereignissen bewarten, wie Unsterbliche, die keine Kanone jemals erreichen konnte: dort, fern und unerreichbar, auf dem Bett hinter der Türe, wie in Höhlen ohne Hall, wo sie ans Boot dachten, das sie ins Trockene gebracht hatten, sicher gelagert unter ihrem Hintern, und wo sie mit ihren Fingernägeln den Platz neben sich streichelten und herrichteten, als schleiften sie an den Haaren den Mann ins Haus, aufs Bett, ins anheimelnde Versteck ihres Körpers, an den Haaren, voller Wut, heraus aus diesem bastardischen Krieg ohne Liebe noch Salz, um den sie sich daher auch einen Dreck scherten. (S. 142)

Das Buch hat viele zeitgeschichtliche und kulturelle Bezüge, die sich wahrscheinlich mit Hintergrundinformationen zu dieser Zeit und den Ort noch besser erfassen lassen, wie beispielsweise über das Mussolini-Regime, dessen Symbolik und Einfluss auf die Gesellschaft. Diese werden im Rahmen der Geschichte meist etwas genauer erläutert und ergeben sich oft auch aus dem Kontext. Auf einer zweiten, wesentlich wichtigeren und ausgeprägteren Ebene beschreibt der Autor hier aber die Menschen, ihren Schmerz, ihre Hoffnungen und gibt ihnen viel, sehr viel Raum diese zum Leser zu transportieren. Mit viel Sprachgewalt, mit wunderschönen, treffenden Sätzen, mit metaphorischen Zwischenspielen, manchmal zaghaft, manchmal mit einer fast grob anmutenden Direktheit. Und immer zusammen mit dem Meer, dem nicht zu bändigenden Meer mit seinen Naturgewalten, die das Schicksal dieser Menschen ebenso unkontrollierbar beherrscht, wie der Krieg.

Und für den Strandvagabunden muss es jedes Mal sein, als würde er unmittelbar vor dem Tod stehen und sich an die erlebte Zeit erinnern und sein ganzes Leben wieder sehen, wie wenn das Meer es über ihn schüttete, Welle auf Welle, da, vor ihn hin auf den Strand, Jahre um Jahre, unter der peitschenden Gischt, was nur Augenblicke dauert. (S. 160)

Unbekannte Wörter, Wortneuschöpfungen werden im Rahmen der Geschichte erklärt, meist auch mit ihrer feinsinnigen Bedeutung. Über einige der Neologismen habe ich hinweg gelesen, manche nimmt man unbewusst auf und versteht sie auch im Rahmen der Handlung sehr gut. Manche wiederum haben für mich auf nur sehr abstrakter Ebene ein Bild ergeben, wie beispielsweise das Wort „schampanjerselig“ oder Arkelamekk, ungefähr so, wie man ein Empfinden für mathematische Zusammenhänge hat, sie aber nur schwer erklären könnte wie beispielsweise die Schnittmenge zweier Körper in 8-dimensionalen Raum.

Es gibt eine Vielzahl an Wörter, die in dem Buch sehr häufig verwendet werden, einem aber vor der Lektüre völlig fremd sind. Ein Beispiel dafür ist der Begriff Fere, das die Bezeichnung der Fischer für die dort einheimischen Delfine ist. Im Sizilianischen bedeutet dieser veraltete und mittlerweile nicht mehr geläufige Begriff soviel wie „Fischbestie“. So wird der Begriff in dem Buch erklärt, im Anhang wird er aus dem Lateinischen von ferus, was wild, ungezähmt, grausam bedeutet, abgeleitet. Für die Fischer sind Delfine ein großes Problem, da sie die aufwendig geknüpften Fangnetze zerstören, der Lebensgrundlage der Fischer. Ein großer Teil des Buches ist also auch dem Kampf oder dem Krieg zwischen den Fischern und den Delfinen gewidmet in dem die Feinheiten dieses Problems und der sprachliche Gebrauch von Fere und Delfin thematisiert wird, aber auch ein weiteres Gleichnis für den Krieg der Faschisten geschaffen wird.

Sehr interessant ist dabei, wie D’Arrigo dieses Gleichnis herleitet, wie dieser Zusammenhang in einer sehr hohe Komplexität dargestellt wird und fast einer deduktiven Argumentationskette gleicht, zeitgeschichtlich und philosophisch geprägt ist und sich immer im Kleid des Meeres präsentiert. D’Arrigo fängt also plötzlich an, von den Meerestieren Feren zu erzählen, wie sie leben und dass es ein Geheimnis ist, wie diese Tiere im Alter sterben und dass kein Fischer je ein durch sein hohes Alter verendetes Tiere gesehen hat. Ausgehend von dieser Einleitung, die sich über viele Seiten erstreckt, beschreibt der Autor wie der Protagonist ‚Ndrja sich in einem Tagtraum verliert. Er träumt davon, wie er entdeckt, dass die Feren zu einem aktiven Vulkan schwimmen und dort den Freitod in den Flammen der Eruption suchen. Durch dieses Martyrium erhebt ‚Ndrja diese von den Fischern verhassten Tiere zu etwas höheren, etwas reinem und glorreichen. Plötzlich wird auch nicht mehr die negativ behaftete und veraltete Bezeichnung Fere, sondern das Wort Delfin für die Meerestiere verwendet. In einem unmittelbar darauf folgenden Tagtraum träumt ‚Ndrja davon dies den anderen Fischern aus seiner Heimat zu offenbaren. Doch sie wollen seine Worte nicht hören, sie treten in einem bildhaften Vergleich die Delfine mit ihren Füßen. Noch weiter holt D’Arrigo aus und beschreibt einige Szenen aus ‚Ndrjas Fischer- und Kriegsvergangenheit, die sein zwiespältiges Verhältnis zu den Feren erklärt. Am Ende lässt er all diese Fragmente zusammenfließen und da wird dem Leser klar, warum er das macht: All diese Erlebnisse, Gedanken, Kindheitserinnerungen, all diese einzelnen Geschichten und Szenen sind ein Teil von ‚Ndrjas Selbstverständnis und seinem Weltblick und wer die Seele dieses Fischers mit all ihren Fassetten verstehen möchte, der bekommt hier die Grundlage dafür geliefert.

Die verhassten Feren, welche von den Faschisten liebevoll Delfine genannt werden, sind ein Gleichnis für Mussolini und sein Regime, für den Faschismus und die falsche Gloria, in die sie sich kleiden. Die Fere hat also gleich mehrere Sinnbilder und spielt für das Verständnis von ‚Ndrjas Gedankenwelt eine umfassende Bedeutung. Sie ist ein Spiegel seines Kampfes mit sich selbst, ein Ringen mit dem Krieg, den er kennengelernt hat und in dem er auf subtiler Art seinen Frieden mit den Feren geschlossen hat und seiner Rückkehr Nachhause, zu seiner ursprünglichen Seele, welche die Feren zutiefst verachtet.

Es war, als würde er dorthin zurückkehren, ferner noch als die Zeit und der Ort, in die er sich bereits zurückgekehrt sah, dort, ins Jetzt, an die Gestade des Feminotenlandes: zurückgekehrt aus dem Krieg, der ein Krieg war, und anders als ihr Krieg, zurückgekehrt von den hohen Meeren des Kontinents, wo man von der Fere nichts weiß, wo man nur die Delfine kennt und er sie auch kennengelernt hat, die ihm jetzt, in einem vom Schlaf verwilderten Kopf, wie schreckliche Erscheinungen aufsteigen, kurz gesagt: heimgekehrt von allem, was ihn vom Meer zwischen Skylla und Charybdis abgetrieben und der üblichen Zeit entfremdet hat, von dem üblichen Krieg gegen die Fere. (S. 213)

Das faszinierende dabei ist wie D’Arrigo mit viel Sprachgewalt, mit der diese Gleichnisse, die alle dem Lebensraum des Meeres entnommen sind, mit den Figuren und deren Schicksal verknüpft und wie er die Persönlichkeit der Fischer zum Leben erweckt und mit ihrer Umwelt verwebt. Und etwas anderes zeigt dies eindrucksvoll: ‚Ndrja sieht die Welt aus seinen Augen und das sind die eines Matrosen und Fischers. Es gibt keine Wahrheit und was so klar und eindeutig in unserem Verstand erscheint, das ist nur ein Abbild der Realität und hat keinen Anspruch auf Gültigkeit. Es ist der ganze Einfluss unseres vorhergegangenen Lebens, das den Blick immer in die ein oder andere Richtung verzerrt.

Ein weiteres Beispiel für diese deduktiven Argumentationsketten, die bei mir manchmal einen Aha-Effekt ausgelöst haben, ist die Beschreibung der Szene, in der ‚Ndrjas Einheit kapituliert, ihr eigenes Schiff versenkt und sie die Heimreise antreten. Fast hundert Seiten lang beschreibt D’Arrigo wie der Begriff der Sirene (für eine Meerjungfrau) die Jugend und das Erwachsenwerden ‚Ndrjas geprägt hat. Nicht langweilig oder eintönig, nein mit weit ausholender aber interessanten Szenen aus dem Leben der Fischer, mit eindrucksvollen Bildern von den mystischen Sirenen. Nur um am Ende zu zeigen, mit welcher Klarheit die Entscheidung der Kapitulation getroffen wurde und wie eng diese Entscheidung an die Seele der Fischer gebunden ist.

Was will ich mit dieser ausführlichen Beschreibung dieser Elemente aus dem Buch sagen? Es ist ein Genuss das zu lesen, auch wenn D’Arrigo oft sehr ausführlich schreibt, so liegt dem meist gleich mehrere Bedeutungen zugrunde, die sich zum Teil überraschend verständlich und deutlich präsentieren, oft aber auch erst nach längerem Nachdenken zum Vorschein kommen. Der Text ist aber so fassettenreich, dass wohl noch viel mehr darin liegt, was sich wahrscheinlich erst beim zweiten und dritten Mal Lesen präsentiert. Etwa ab der 100ten Seite habe ich irgendwie unbewusst diese Schreibweise verstanden und konnte ihr dann leicht folgen und auf den sehr langen Sätzen, die sich meist über eine viertel Seite erstrecken dahin schwimmen, in den Wogen der Sprache, die dem Meer so ähnlich ist. Ab der 300ten Seite habe ich dann verstanden, wie dieses Buch aus makroskopischer Sicht strukturiert ist und warum es als ein so bedeutendes Werk gehandelt wird. Was D’Arrigo hier komponiert ist auf mehreren Abstraktionsebenen angelegt und ergibt ein psychologisch erschreckend echtes Bild von den Fischern, Menschen, die mir kulturell und historisch nicht ferner sein könnten, plötzlich aber ganz nah sind.

Die Geschichte besteht auch zu großen Teilen aus der Portraitierung der verschiedenen Charaktere, die ‚Ndrja begegnen, wobei D’Arrigo ein ganz deutliches Bild der einzelnen Personen entwirft. Das setzt sich zusammen aus dem, was diese erzählen, aber auch ganz besonders aus der Art und Weise wie sie das tun, wie sie dabei mit ihrer Umwelt interagieren und mit welcher Körpersprache das passiert. Ich hatte oft den Eindruck, dass das Gelesene in Echtzeit abläuft, sprich die Dinge die passieren ungefähr so schnell ablaufen, wie ich zum lesen benötige. Das hört sich langatmig an, aber aufgrund der Vielschichtigkeit dieser Charaktere bin ich diesem nicht überdrüssig geworden.

Anhand dieser Begegnungen wird die deutliche Spur des Krieges sichtbar und auf eher subtile Weise dringt dies zum Leser vor. So erfährt man scheinbar nebenbei, dass in der Meerenge zwischen Sizilien und Kalabrien zahlreiche gefallene Soldaten in der Strömung dahintreiben, diese immer wieder angespült werden, zum Teil von den Delfinen zur Küste getragen werden. Oder das Leid der zurückgelassenen Frauen, deren Männer mit Begeisterung in den Krieg der Faschisten gezogen sind und nun dem alltäglichen Grauen ausgesetzt sind, vielleicht den ihren dort an den Gestaden angespült zu finden. Der innere Kampf, den all diese Menschen begleitet findet man dort, irgendwo zwischen den Wogen des Meeres, denn es ist im Leben dieser Menschen und in diesem Buch allgegenwärtig (ein Umstand, denn ich einfach immer wieder betonen muss, denn er ist so signifikant, dass er sich immer wieder aufdrängt, auch bei dieser Nachbetrachtung).

Das Buch ist in vier Teile gegliedert. Der Erste umfasst die Heimreise und beschreibt die blutige Spur des Krieges, auf die ‚Ndrja dabei stößt. Der zweite Teil ist ‚Ndrjas Vater Caitanello gewidmet, der über das im Krieg geschehene berichtet. In einigen ausschweifenden Erklärungen D’Arrigos erfährt der Leser aber auch einiges über ‚Ndrja, seine Jugend und auch einiges über das Leben und die Kultur der Fischer. Der dritte Teil beschreibt schließlich den Orca, den Orcinus Orca, den großen Schwertwal in aller Ausführlichkeit. Der vierte Teil handelt davon, wie der Krieg die Menschen, die Gesellschaft, das Leben und die Fischer selbst verändert hat.

Während ‚Ndrja im ersten Teil eher im Hintergrund bleibt und die Erzählungen der Menschen im Vordergrund stehen, denen er auf seiner Rückkehr begegnet, so rückt er im zweiten Teil wesentlich stärker in den Vordergrund. Seine Art zu denken und zu handeln war für mich hier gut nachvollziehbar und erst ab dieser Stelle konnte ich mit ‚Ndrja so richtig mitfühlen. Auch zu sehen, wie der Krieg den fragilen Lebensraum der Fischer verändert und was für einen großen Einfluss er auf die Region hatte. Es wird auch deutlich, wie rückständig Sizilien in dieser Zeit war. Auch an dieser Stelle hat mich die Deutlichkeit und die Bilder, mit denen D’Arrigo den Krieg beschreibt, sehr beeindruckt:

In einem Wimpernschlag kam der Hurenbocksoldat [eine Metapher für den Krieg an der Front] da wieder zu sonnendruchglühten Kräften und schlug mit Katastrophen um sich: Tote, Verletzte, abgerissene Körperteile, Flammen, Explosionen, aufgerissene Leiber, schäumende Wogen von Blut, Rauch und schwarze Krater, Geschrei und Gewimmer, deutsches und italienisches, amerikanisches und englisches Wehklagen, das an diesem Punkt jedoch alle in der gleichen Sprache von sich gaben, alle trugen sie die gleiche Uniform, alle starben sie den gleichen Tod, alle fielen sie durch die Hand des von der Sonne aufgeheizten Hurenbocksoldaten. (S. 579)

Im zweiten Teil, bei den Erzählungen von Caitanello, ‚Ndrjas Vater, werden die Erlebnisse sehr umfangreich aus seiner Sicht erzählt. Es ist schon nachvollziehbar, wieso D’Arrigo so ausholt und das Bild, das man von den Fischern gewinnt ist sehr detailreich, ich denke hier hätte aber, wie an einigen Stellen des Buches, etwas weniger Text wahrscheinlich gereicht, um den Leser trotzdem umfassend ins Bild zu setzen. Zudem erschien mir das Buch hier nicht mehr so einen richtigen Faden zu haben. Die Erzählungen, die immer in die nahe und etwas entferntere Vergangenheit reichen wirken oft ausschweifend. So wird von ‚Ndrjas ersten Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht berichtet, was neben einigen anderen Szenen durchaus ein stimmiges Bild von der Kultur und der Seele der Fischer verrät. Dennoch habe ich mich nicht gelangweilt, denn die Art D’Arrigos zu erzählen hat etwas sehr umfassendes, erreicht nicht nur das Handeln der Personen, sondern berührt auch immer ihr Innerstes. Er kombiniert sehr geschickt und schafft mit Kontrasten ein deutliches Bild.

Es gab mehrere Szenen, die mich irgendwie schockiert und berührt haben. Eine beschreibt einen deutschen Soldaten, der bei dem Rückzug aus Neapel mit seinem Panzer den Anschluss an seine Kameraden verliert und schließlich von einheimischen Jungen von etwa 13 Jahren gestellt wird. Wie der Soldat sich dem Tod konfrontiert sieht, aber insbesondere wie es die Einheimischen tun. In welchem Licht ihnen dieser Mann erscheint und ganz raffiniert taucht da, in diesem Bild, ein junges Mädchen mit ihrem blinden Vater auf. Diese Kombination, die Gedanken der vom Krieg gezeichneten Jungen, das scheinbar hilflose Mädchen mit seinem Vater und die Gegenwart des Todes, das ist schon eine heftige Kombination.

Ebenfalls sehr emotional ist die Geschichte von Federico, einem Kindheitsfreund ‚Ndrjas, dessen rechte Hand im Gefecht verstümmelt wird. Wie er die Geschichte erzählt und wie auch er eingebettet ist, in diese Umwelt, in die sizilianische Landschaft, die in dem Buch alles vereinnahmt und die Bitterkeit die darin liegt, auch hier wieder sprachlich in absoluter Perfektion formuliert:

Er steckte seine Fleischrolle [gemeint ist die verstümmelte Hand] wieder in die Hülle zurück und zog mit den Zähnen an der Schnur: Wieder wandte er den Blick der Sonne zu, die hoch über der Mitte der Meerenge stand, und sah sie an wie etwas Schreckliches und Trauriges, wie eine kalte Sonne ohne Wärme, eine vergangene, ferne Sonne, eine der Sonnen, die einmal, in Friedenszeiten, auf den guten Jungen und die ganze Horde seiner milchbärtigen Freunde geschienen haben; er sah sie in einer Weise an, die einem das Herz zuschnürte, wie eine Erinnerung, mit apathischem, leidenschaftslosem Auge, das dem Mond näherstand als der Sonne. (S. 714)

Der dritte Teil, in dem es vordergründig um den Orca, den Schwertwal und dessen Bedeutung für die Fischer geht, nimmt das Tempo des Buches noch einmal stark ab. Hier geht D’Arrigo sehr genau auf das mythenhafte Bild ein, dass die Fischer von diesem ihnen nahezu unbekannten Meeresbewohner haben. Hier wird wieder deutlich, wie rückständig diese Menschen waren, aber in welchen Einklang mit ihrem Umfeld und ihrer Natur sie sich befunden haben. Ihr Aberglaube trifft hier auf die Realität und das mutet oft etwas seltsam an und war für mich manchmal schwer nachvollziehbar. Eine starke Anthropomorphisierung der Delfine, Orcas usw. ist in diesem Buch schon sehr auffallend. Andererseits hat mir das auch sehr gut gefallen, denn so entsteht beispielsweise auch die Sage um die Sirenen, Meerjungfrauen, welche die Seefahrer und Fischer verführen, in versteckte, submarine Grotten locken um sie dort zu entmannen. Sehr detailreich und wirklich sehr stimmungsvoll wird hier ein Mythos erneut zum Leben erweckt. Das zu lesen ist purer Genuss. Wobei man aber deutlich sagen muss, dass das Buch ab dem dritten Teil beginnt langatmig zu werden. Andererseits ist es schon spannend mit den Fischern die Aktivitäten auf dem Meer zu beobachten und man bekommt einen sehr detailgetreuen Einblick auf die Sicht der Pellisquadre.

Im vierten Teil nimmt das Tempo nochmal rapide ab (und das will was heißen). Zentrales Element ist hier ein Dialog, der sich über 200 Seiten erstreckt und bis ins Detail seziert wird. Eine Kürzung hätte hier ganz sicher nicht geschadet. Natürlich ist diese Darstellung, wie der Krieg auch den prinzipientreuesten Musterfischer verändert, durchaus lesenswert, aber ein bisschen übertrieben ist der Umfang des Dialogs dann doch. In diesem letzten Teil ergibt sich auch eine Erklärung für den Titel des Buches. Der Orca in dieser Geschichte ist eine Metapher für das Land, für die Menschen, allen voran die Pellisquadres und wie sie sich in den Zeiten des Krieges verändert haben, wie sie von einem zynischen, einem verbitterten, spöttischen und herablassenden Weltbild erfasst wurden und sich einer gewissen Hoffnungslosigkeit ergeben haben. Bar jeden Ideals, so scheint es dem Protagonisten und all diese Eigenschaften porträtiert D’Arrigo in einem Dialog und setzt diesem vierten Teil bewusst eine ebenso exakte Darstellung des Orcas voran. Wie D’Arrigo mit Sprache umgehen kann, das zeigt er hier sehr eindrucksvoll, indem er ausgehend von dem Begriff der Barke (wort)spielerisch zur Bare kommt, denn die Fischer haben ihre Toten mit alten, ausgemusterten Barken ins Meer entsandt und auf diese Weise beerdigt. Von der Bare und der Barke kommt er auf die Arke, herausgelöst aus dem von ihm geschaffenen Wortes Arkelamekk. Die Arke als Sinnbild für die Arche für die Pellisquadres.

Dass der Orca mit dem Krieg verwoben ist, ihn wiederspiegelt und sich vieles in dem Roman darin wiederfindet, das wird an mehreren Stellen ganz deutlich benannt:

So fand also nicht nur die Rückkehr des Orcaferons dort vor ihnen statt, sondern auch die Ankunft dieser englischen und amerikanischen Flotte im Hafen von Messina. [..] sofern man sich nicht zu dem Gedanken verleiten ließ, dass auch eine Kriegsflotte eine Orcinuse ist, das auch sie den Tod bringt. (S. 949)

Und so ist die Orca, der Orcaferon, der Orcadaver, die Orcinuse, die Tödin, alles Namen die der Autor diesem Meeresungeheuer gibt, so ist sie nicht nur eine Metapher, sondern auch ein lebendes Portrait für den Tod, der scheinbar immerwährend über diesem Buch schwebt, insbesondere im letzten Teil, ganz besonders in diesem vierten Teil der noch einmal zeigt, was Krieg für die Menschen und ein Land bedeutet. Und um diese übertragene Bedeutung der Orca zu verdeutlichen, hat D’Arrigo das gemacht, was er meisterhaft beherrscht: Er verändert die Sprache und nennt sein Buch Horcynus Orca.

Fazit: Horcynus Orca ist ein detailreiches Portrait über die Pellisquadre, die sizilianischen Fischer, über ihr Leben und über ihre Kultur. Darüber, wie der zweite Weltkrieg ihr Leben verändert hat, aber auch wie ihr ganz eigener Krieg gegen die Delfine und den Widrigkeiten ihres Alltags ganz eng an das Meer gebunden ist. Es zeigt ihre Seele, warum sie so sind und stellt nicht nur dar, sondern erweckt die besondere Sicht dieser einfachen Menschen zu neuem Leben, macht sie erfahrbar.

Dieses Buch, mit seinen wundervollen Sätzen, seiner einzigartigen Sprache, dessen immerwährenden Einfluss des Meeres ausgesetzt, dessen realistischen Blick auf den Krieg, aber auch sein verträumter auf alte Mythen, ist ein Meisterwerk. Es bewegt sich in der Premiumliga, für mich ist es in einem Atemzug mit Tolstoi oder Dumas zu nennen, die eine ähnlich hervorragende, zeitlose Sprache und kulturelle Darstellung erschaffen.

Gleichzeitig ist Horcynus Orca sehr umfangreich und verlangt dem Leser viel Aufmerksamkeit und Zeit ab. An einigen Stellen wird die Geschichte auch sehr langsam und D’Arrigo geht sehr genau auf einzelne Personen und Gedankengänge ein. Manchmal ist das dennoch sehr unterhaltsam, oft wird der Leser mit einem detailreichen Gefühl belohnt, manchmal wirkt das aber eher störend.

Ein Epos der sehr empfehlenswert ist und dessen Lektüre ich jedem, der vor der Menge nicht zurückschreckt und das Meer liebt nur empfehlen kann.

Tipp: Wer dieses Buch liest, der stößt auf viele Fremdwörter und Wortneuschöpfungen. Mir ist es manchmal so gegangen, dass ich sie beim ersten Mal, wo sie manchmal genauer erläutert werden, überlesen habe. Dann zurück zu blättern und etwas zu finden ist angesichts der Fülle an Text echt schwierig. Glücklicherweise bietet Google eine Volltextsuche über das Buch an: http://bit.ly/1D9Fal1. Dort könnt ihr in dem Buch suchen (siehe Suchfeld auf der linken Seite unten) und das Ergebnis auch nach Seiten sortieren. Dann kann man recht schnell die Stellen finden, an denen ein Wort zuerst aufgetaucht ist.

Buchinformation: Horcynus Orca • Stefano D’Arrigo • S. Fischer Verlag • 1472 Seiten • ISBN 9783100153371

14 Kommentare

  1. Danke, danke, danke für diese ausführliche, detailreiche Rezension! Das Buch steht nun seit Jahresbeginn auf meiner Wunschliste – zum einen da mich Geschichten, in denen das Meer eine tragende Rolle spielt, magisch anziehen, zum anderen aufgrund der Entstehungs- und Übersetzungsgeschichte. Du bist nun der erste im Bloggerumfeld, der das Werk komplett gelesen hat und man merkt deiner Rezension an, wie intensiv du dich mit der Lektüre beschäftigt hast. Mir hast du damit eine noch bessere Vorstellung davon ermöglicht, was mich erwarten wird. Nun möchte ich „Horcynus Orca“ erst recht lesen – spätestens beim Vergleich mit Tolstoi und Dumas hätte ich nicht länger widerstehen können.

    Vielen Dank auch für den Tipp mit der Google-Suche!

    1. Liebe Kathrin,

      vielen Dank für dein Kommentar. Ich kann mir vorstellen, dass es vielen so geht wie dir. Ich hab angesichts des Umfangs auch erst überlegt. Aber es hat sich gelohnt und es freut mich, dass dir mein Beitrag eine vage Vorstellung von diesem Epos geben konnte.

      Liebe Grüße
      Tobi

  2. Hi Tobi,
    von meiner Seite gibt es zweimal Respekt zugerufen. Einmal, dass du dieses Monstrum an Buch bekämpft hast und zum Zweiten für die wunderbare, umfangreiche Rezension, die einen Eindruck vom Buch und den Genüssen aber auch Schwierigkeiten damit vermittelt. Bei Mara von buzzaldrins, die es ja für Leipzig gelesen hat, wurde ich auf das Buch das erste Mal aufmerksa. Nach deiner Besprechung ist das Interesse weiterhin aufrecht da. Ich werde es aber etwas auf die lange Bank schieben und wie einen guten Wein reifen lassen, da mich noch ein Buch ähnlichen Kalibers vom Buchschrank anlächelt (Stichwort Unendlich und Spaß).
    Gruß Marc.

  3. Hallo Tobi,

    das nenne ich mal eine würdige Rezension. Ohne das Buch und dessen Inhalt wirklich zu kennen weiß ich: Jede Seite ist sicherlich goldwert. Dieses Werk ist zudem sehr Interessant, deine Schilderung darüber lässt mich nicht abgeneigt zurück. Ich bin positiv überrascht, wie deine Bewertung dazu doch tatsächlich ausfällt. Du weißt anscheinend eben, wie man so etwas bewertet.

    Allerdings würde mich persönlich tatsächlich der Umfang und die Fremdwort Quote noch lange davon abschrecken. Nicht, weil ich es nicht nicht lesen möchte. Ich möchte mich in dieser Hinsicht herantasten und irgendwann eventuell mal zu diesem großen Buch greifen. Wenn ich Zeit und richtig Lust darauf habe. Das kann spontan kommen, das kann aber auch noch Jahre dauern. Wer weiß?

    Ich danke dir für diese aufwändige, ausführliche und lesenwerte Rezension. Das ist echt sagenhaft. 🙂

    Liebe Grüße
    Henrik

    1. Hallo Henrik,

      vielen Dank für deine Worte und dein Interesse an der Rezension. Ich hoffe ich habe dich von diesem echt klasse Buch nicht abgeschreckt. Ich denke da geht jeder etwas anders heran, an so ein Buch. Ich gehöre zu der Sorte, die sowas in einen Rutsch durchlesen. Was aber schon ein wenig Durchhaltevermögen erfordert, denn man braucht einfach seine Zeit. Manche lesen sowas immer wieder über einen längeren Zeitraum, lesen aber parallel noch andere Bücher. Das halte ich auch für absolut legitim, denn nicht jeder hat Lust einen Monat nichts anderes zu lesen.

      Der Text ist natürlich anspruchsvoll, aber ich kann dich nur ermutigen dich an das Buch heranzuwagen. Ich ertappe mich immer wieder dabei, wie ich daran denken muss, an einige Szenen und Dinge die da passiert sind und sich irgendwie in mein Gedächtnis gebrannt haben. Aber auch an die schöne Sprache, die in dieser Form sicherlich einmalig ist.

      Herzlichen Dank für deine Worte. Schön, dass die Rezension gefällt!

      Liebe Grüße
      Tobi

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