Der gewendete Tag • Marcel Proust

Schon lange wollte ich mich endlich einmal Marcel Proust widmen, einem sehr bekannten französischen Schriftsteller, der besonders mit seinem umfangreichen Romanwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit in die Literaturgeschichte eingegangen ist. Ich wollte aber auch nicht gleich mit dem mehrere tausend Seiten umfassendem Zyklus starten und als der Manesse-Verlag das Buch Der gewendete Tag in neuem Gewand präsentiert hat, habe ich es gleich als gute Gelegenheit erkannt, einmal in Prousts Kosmos hinein zu schnuppern. In diesem Beitrag will ich meine Eindrücke teilen und jedem, der auch mit dem Gedanken spielt sich mit Proust zu beschäftigen, einen Einblick geben, was dort zu erwarten ist.

Der gewendete Tag umfasst chronologisch angeordnet mehrere Vorabdrucke, die Proust zwischen 1912 und 1923 nach und nach veröffentlicht hat. Diese hat er später nochmal modifiziert und stark erweitert und schließlich wurde daraus seine Auf der Suche nach der verlorenen Zeit das zwischen 1913 und 1927 erschien. Der Leser bekommt hier also Texte geboten, die stellenweise so auch in seinem großen Zyklus zu finden sind und es tauchen auch zahlreiche Figuren von dort auf, wie Albertine, Herzogin Guermantes oder Madame Verdurin. Man könnte also sagen, dass Proust dieses Buch mehr oder weniger zusammengestellt hat und zwar in Form dessen, wie er diese Texte nach und nach vorab veröffentlicht hat.

Mit der verlorenen Zeit wollte Proust ein Sittenbild seiner Zeit, um die Epoche der Belle Époque herum, zeichnen und macht dies in Form einer fiktiven Autobiographie. Die einzelnen Kapitel hängen chronologisch lose zusammen, haben aber jeweils ihren eigenen Schwerpunkt, in dem sie Orte, Menschen, Begegnungen und Begebenheiten beschreiben, wie sie der Protagonist erlebt und empfindet, der manchmal auch als Marcel bezeichnet wird und mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit das Alter Ego des Autoren ist.

So beginnt das erste Kapitel mit detaillierten Beschreibungen wie er den schönen blühenden Weißdorn bewundert. In dem folgenden Kapitel beschreibt Proust wie Sonnenstrahlen auf dem Balkon ihn an eine erste Verliebtheit erinnern, die er im zarten Altern von 12 Jahren für ein Mädchen empfunden hat. Model für das Mädchen, dass er im Sommer regelmäßig auf dem Champs-Élysées getroffen hatte, war vermutlich Prousts Jugendliebe Marie de Bénardaky. Schon bei diesem ersten Kapiteln wird schnell klar, dass es bei ihm sehr stark um Erinnerungen geht, darum wie gegenwärtige Sinneseindrücke ganz willkürlich Reminiszenzen in ihm evozieren. Für diese unwillkürlichen Erinnerungen ist Prousts Werk auch berüchtigt. Am bekanntesten ist hier eine Szene, wie der Geschmack eines in Tee eingetauchten Madeleine-Gebäcks in ihm ein Feuerwerk von Erinnerungen an seine Kindheit weckt. Diese zahlreichen Erinnerungen finden sich in dem gesamten Buch immer wieder, zu Beginn eher banal in Form einer Dorfkirche eines Ferienortes, den er als Kind mit seinen Eltern oft besucht hat oder sein Empfinden bei einem geplanten aber dann wegen Krankheit abgesagter Florenzaufenthalts.

Die Kapitel sind manchmal ziellos, halten den Moment fest, wandern über verschiedene Detaileindrücke hinweg, von einer Verliebtheit zu einer unerreichten Marquise, zu der Beziehung eines Freundes zu seiner Mätresse bis hin zu den letzten Tagen seiner Großmutter. Immer mit einem sehr genauen Blick auf Einzelheiten, mit feinen Worten formuliert, die von zahlreichen Vergleichen belebt werden. Die Kapitel sind chronologisch angeordnet und beschreiben unterschiedliche Erlebnisse in dem Leben des Protagonisten, wobei sich dann die späteren Geschehnissen auf frühere Kapitel beziehen. Beispielsweise, wie er nach Balbec nach dem Tod seiner Großmutter zurückkehrt. Wie in Die Suche nach der verlorenen Zeit ist das Buch also eine Aneinanderreihung von Momenten aus seinem Leben, bzw. einem fiktiven Leben, wobei die Geschichten scheinbar schon autobiographischen Ursprungs sind.

In einem Kapitel beschreibt er die Gesellschaft um Madame Verdurin, eine Gruppe alter Professoren, Doktoren und Künstler und portraitiert die Besonderheiten dieser Gesellschaft, ihre Schrulligkeiten und Gewohnheiten. Das hat mich ein wenig an Das Antiquitätenkabinett von Balzac erinnert. Gerade Balzac hat in seiner menschlichen Komödie so einige ausgefallene Gesellschaften wunderbar wiedergegeben. Auch wenn man bei Proust schon zahlreiche Zwischentöne wahrnimmt und durch die Beschreibungen eher ein Gefühl als ein festes Bild von diesen Menschen bekommt, ist er hier weit weg von dem, was Balzac mit seinen ausdrucksstarken, klaren und wunderbar klingenden Sätzen vollbracht hat.

Sehr unterhaltsam fand ich eines der späteren Kapitel, wo seine Liebe zu einer Frau erwacht, die er zuvor eher mit Geringschätzung begegnet ist. Die Ursache für diese Zuneigung fand ich sehr seltsam, auch wie er seine Gedanken schildert, wobei gerade das Kapitel das war, das mich am meisten gefesselt hat. Es geht darin um Homosexualität und wie seine Liebe zu einer Frau von der Eifersucht immer wieder angefacht wird und wie er dieselbe wahrnimmt, wie er diese Frau völlig besitzen möchte, was er aber nicht erreichen kann und was Proust sehr einfühlsam beschreibt und dadurch sehr gut nachvollziehbar macht.

In einem anderen Kapitel beschreibt Proust, wie er mit der Trauer um seine Großmutter umging. Es geht darum, wie sie ihre Krankheit so lange wie möglich vor ihm verborgen hat, um ihn zu schonen und insgesamt ist das Kapitel einfach nur eine Episode von Selbstmitleid, ohne dass ich in den Sätzen etwas gefunden hätte. Und so ging es mir oft, dass mich seine Gedanken und Gefühle nicht so richtig erreicht haben.

In seinen Texten gibt Proust einen sehr detaillierter Blick auf Einzelheiten, auf oft banal wirkende Details und auf momentane Stimmungen, wobei Unwichtiges und Bedeutendes sich vermischt, wodurch die Szenen sehr langsam werden. Es offenbart sich schnell, dass er sehr sensibel war und eine sehr empfindliche Wahrnehmung für Lichtstimmungen und Empfindungen hatte. Neben der Zeit, die wie das Rückerinnern immer wieder ein Thema ist, ist gerade der Blick auf emotionale Feinheiten und die Darstellung seiner reichen Gefühlswelt ganz charakteristisch. Dabei verwendet Proust kunstvolle, lange, geschachtelte Sätze, mit einer feinen Sprachmelodie, manchmal distinguiert, einfühlsam, manchmal auch Banales mit langen wortreichen Sätzen darstellend.

„Die Zeit, die wir täglich zur Verfügung haben, ist elastisch; unsere eigenen Leidenschaften dehnen sie, die Leidenschaften, die andere für uns empfinden, lassen sie schrumpfen, und die Gewohnheit füllt sie auf.“ (S. 223)

Seine wunderbare Fähigkeit sublime Emotionen darzustellen, beweist er in einem Kapitel, in dem er seine Verliebtheit zu einer Frau beschreibt und wie sie unerfüllt bleibt und langsam erlischt. Das hat mich sehr an Henry James erinnert, wie er sehr differenziert seine Gefühle und Gedanken auseinandersetzt und diese mit viel psychologischen Feinsinn beschreibt und auch umschreibt, erneut mit langen und geschachtelten Sätzen.

Die einzelnen Kapitel haben oft keine klare Linie, sie beschreiben etwas, sehr genau, sehr minutiös, um sich dann einem anderen Thema zuzuwenden, das dann ebenfalls hinsichtlich einzelner Aspekte sehr genau beleuchtet wird. Die Episoden haben keine Pointe, keinen spannenden Plot, das Buch fließt dahin, Proust verliert sich in der Betrachtung von Einzelheiten, besonders emotionaler Natur und das ist manchmal sehr schön zu lesen, weil sie mich immer wieder an mein eigenes Denken erinnert haben, so wie man sein Umfeld eben auch oft wahrnimmt, mit den Eindrücken für zumeist unbedeutende Details. Gleichzeitig habe ich das Buch als wenig fokussiert empfunden, es hat keinen greifbaren Handlungsstrang, wodurch es für mich keinen so richtigen Tiefgang aufbauen konnte. Da helfen dann auch keine langen verschachtelten Sätze, welche die Lektüre unnötig komplizieren und sehr oft keinen Mehrwert schaffen.

Das ist oft natürlich sehr meisterhaft, wie er seine Gedanken formuliert, wie er Nuancen wahrnimmt. Beispielsweise beschreibt er den Tod seiner Großmutter und setzt den Fokus auf die Reaktion der Menschen, wie sie mit diesem Ereignis umgehen. Proust ist also durchaus ein sehr guter Beobachter. Trotzdem hatte ich oft das Gefühl, dass er doch bei Oberflächlichem bleibt. Wenn er betrachtet, ob jemand ausreichend distinguiert ist, wenn er sich fragt ob ihm eine Umgebung und die derzeitigen Lebensumstände auch genehm sind oder wie sich für ihn der Blick auf eine Frau verändert, damit er sie reizvoll findet. Proust wirkt arrogant, überheblich, egozentrisch und snobistisch. Obwohl er viel über Gefühle, Eindrücke und sehr persönliche Gedanken schreibt, habe ich beim Lesen eher eine Gefühlskälte empfunden. Es fehlt die Herzlichkeit und die Leidenschaft.

Tatsächlich war das eines der Hauptprobleme, die ich mit diesen Texten hatte. Der Protagonist selbst ist schon sehr im Mittelpunkt und ich habe einfach gemerkt, wie zwischen Proust als Mensch mit seinem Denken und mir als Leser ein viel zu großer Abstand ist. Proust ist ein Mimöschen, sehr wohlhabend und privilegiert und er macht einen sehr unselbstständigen Eindruck. Es war oft nur schwer zu ertragen, wenn er schreibt, wie er ständig weinen muss, oder wie er jammert, wenn er in einem Café einen zugigen Platz in der Nähe der Tür bekommen hat. Proust ist das Gegenteil von Mark Twain oder B. Traven. Gerade Traven war jemand, der auch als Heizer auf einem Schiff wie ein Knecht unter schwersten Bedingungen gearbeitet hat und trotzdem noch seine zottigen Sprüche von sich gegeben hat. Eine Woche in Travens Leben hätte Proust wahrscheinlich sofort komplett umgebracht. Er ist blasiert und überheblich, wie er in einer Geschichte mit einer jungen Frau intim wird und sie im weiteren Verlauf komplett von oben herab behandelt. Oder in einem anderen Kapitel schreibt er, dass er ein Vergnügen darin sieht, mit „jungen Mädchen zu spielen“ und gleichzeitig gibt er seine Geringschätzung für Freundschaften zum besten. Wie er taktiert und die Frauen bewusst belügt, ist ebenfalls wenig schmeichelhaft für ihn und zeugen von einem sehr berechnenden Wesen.

Alle Geschichten spielen sich in dem sehr wohlhabenden Umfeld Prousts ab. Seebäder, seine Wohnung in Paris oder Aufenthalte in gehobenen Hotels oder Restaurants. Am Rande wendet er sich auch immer wieder den Bediensteten zu oder beschreibt ausführlich, wie die Rufe der Straßenhändler auf ihn wirken, während er wohl die meiste Zeit Zuhause verbrachte, besonders häufig auch kränklich im Bett. Neben dem Schreiben hat er nicht wirklich was gearbeitet und hat in seinen feinen Sphären gelebt und sich vermutlich durch die Tage treiben lassen.

Trotz dieser Kritik an ihm als Person, die vielleicht unberechtigt ist, denn mein Blick basiert ja primär auf seinem Buch, habe ich die Texte schon sehr als Weltliteratur wahrgenommen. Das liest man schon heraus, an diesen wohlklingenden Sätzen, mit ihren so extrem nuancierten Blick auf Details und gerade diese übertriebene Sensibilität in seinem eigenen Leben hat ihn vermutlich erst dazu befähigt, das schreiben zu können.

„Deshalb ist der beste Teil unseres Erinnerungsvermögens außerhalb von uns, in einem nach Regen riechenden Windhauch, im eingeschlossenen Geruch eines Zimmers oder im Geruch aufflackernden Feuers, überall dort, wo wir von uns selbst wiederfinden, was unsere Intelligenz nicht gebraucht und verworfen hatte, den letzten Vorrrat der Vergangenheit, den besten, der uns, auch wenn alle unsere Tränen versiegt scheinen, noch zum Weinen bringen kann. Außerhalb von uns? In uns, besser gesagt, aber unseren eigenen Blicken entzogen, in einem mehr oder weniger lang anhaltenden Vergessen.“ (S. 260)

Die Lektüre habe ich auf der einen Seite als unglaublich entspannend empfunden. Aufgrund des geringen Tempos und der detaillierten Schilderung seiner Gedanken und Empfindungen, ist das einfach die komplette Entschleunigung. Auf der anderen Seite erfordern einige Passagen, aufgrund der langen und geschachtelten Satzkonstruktionen, durchaus auch einiges an Konzentration und Aufmerksamkeit.

Diese Ausgabe vom Manesse Verlag gefällt mir von der Aufmachung richtig gut. Der Einband mit dem schimmernden goldenen Pfauenfedern sieht sehr schön aus und passt einfach gut zu Prousts abgehobener Sphäre. Das bedruckte Vorsatzpapier hat eine wunderschöne Farbe und abgestimmt dazu passt auch das Lesebändchen hervorragend. Das Buch hat auch eine blaue Fadenheftung, was auch richtig schön aussieht und das Buch wunderbar abrundet. Einziger Wermutstropfen ist der fehlende Leineneinband, aber der fehlt bei den neuen Manesse Klassiker leider nun immer. Ansonsten kann man hier nichts sagen, man bekommt für den ausgerufenen Preis ein hervorragendes Buch.

Die Anmerkungen fand ich sehr informativ und hilfreich für das Textverständnis, wo beispielsweise die Dreyfus-Affäre kurz erklärt wird. Das Nachwort hingegen war abgehobenes Geschwurbel ohne Mehrwert und bietet nur sehr wenig Informationen.

Ich liebe ja die Kombination aus Buch und Arte-Doku. Tatsächlich hatte ich diese mit diesem Buch auch wieder. Vor längerer Zeit schon gab es bei Arte zahlreiche Dokus zu den großen Autoren in der Mediathek zu finden. Darunter auch Die Welt des Marcel Proust, die ich mir damals dann auch aufgehoben habe und nach der Lektüre dieses Buches anschauen wollte. Mittlerweile ist die Doku auf Arte wieder gelöscht (Grüße aus der Steinzeit in der Deutschland noch steckt), wer sie aber sehen möchte, findet sie aktuell noch auf YouTube. Die Doku habe ich mir angesehen und da erfährt man einige echt interessante Hintergrundinformationen. Mit einigen Fotografien und Videoaufnahmen aus der damaligen Zeit. Proust war sowohl Männer als auch Frauen zugetan und spannend fand ich, dass seine Figur Albertine, die sowohl in diesem Buch, als auch in der verlorenen Zeit auftaucht, als Vorlage einen Mann hatte, in den er sich seinerzeit verliebt hatte. Und man erfährt, dass mein Eindruck aus dem Buch mich nicht getrogen hat und der fiktive Erzähler schon sehr nah an Proust selbst dran war. Die Doku hat das Buch auf jeden Fall wunderbar ergänzt und in Summe habe ich einen hervorragenden Einblick in Prousts literarisches Schaffen gewonnen.

Fazit: Formal betrachtet ist das, was Proust schreibt höchste Qualität. Wunderbar lange Sätze mit einer deutlich wahrnehmbaren angenehmen Sprachmelodie, sehr sublime Zwischentöne, die Betrachtung von vielen kleinen Details, ein Sittengemälde seiner Zeit mit Charakterisierungen, die von einer klaren Beobachtungsgabe zeugen und wie sie die großen Autoren alle hatten. Und doch konnte mich dieses Buch und auch Prousts Art zu denken, die Welt wahrzunehmen und wiederzugeben, nicht erreichen und berühren. Das, was seine langen klingenden Sätze zum Ausdruck bringen, das waren für mich eher Beobachtungen, es war für mich eher ein Abbild, mit einer gewissen Kühle und Distanz vorgetragen, mit einer Berechenbarkeit erfasst und mir selbst von der ganzen Attitüde so fremd, dass es mich emotional überhaupt nicht berührt hat. Das gewählte Sujet, wenn er über seine Beziehungen und Gefühle gegenüber Frauen schreibt, wenn er seine Eindrücke von der Natur, dem Meer oder den Weißdorn, den Lichtstimmungen oder auch über die aristokratischen Gesellschaft schreibt, das braucht einfach Leidenschaft, diese typische aufrührerische Leidenschaft, wie sie den französischen Autoren doch eigentlich so sehr zu eigen ist und die mich mit ihrer Intensität immer so gepackt und bewegt hat. Nur bei Proust konnte ich sie nicht finden. Trotzdem habe ich das Buch als sehr lesenswert empfunden, gerade wegen diesen oft wunderbaren Sätzen und dieser Fremdartigkeit und zugleich der Vertrautheit, die sein Denken auf mich hatte. Das Buch ist wunderschön, die Zusammenstellung wunderbar gelungen, um in Prousts Werk hinein zu schnuppern und jeden neugierigen Leser kann ich nur empfehlen, es zur Hand zu nehmen.

Buchinformation: Der gewendete Tag • Marcel Proust • Manesse Verlag • 699 Seiten • ISBN 9783717525301

3 Kommentare

  1. Ich habe vor einigen Jahren die Verlorene Zeit gelesen (Neuübersetzung im Reclam-Verlag). Den ersten Band noch im normalen Tempo, ab dem zweiten Band nur noch 20 Seiten pro Tag. Es war wirklich anstrengend. Allerdings für mich auch sehr gewinnend. Proust erklärt seine Erinnerungstechniken nicht, er benutzt sie. Diese hat er einst in einem Sanatorium beigebracht bekommen. Und dadurch, dass Proust diese Erinnerungstechniken benutzt wie er es tut, kamen mir selbst auch kleinste Details aus meinem Leben zurück. Ich habe damals pro Tag ca 45 Minuten gelesen und war anschließend ca ne Stunde damit beschäftigt, meine eigenen Geschichten zu sortieren. Mich hat das voll getriggert. Hintenraus wurmt es mich, dass ich keine eigenen Aufzeichnungen zu meinen Erinnerungen gemacht habe. Da ist wieder vieles verloren gegangen. Ne verlorene Zeit halt.

    Das Zimperliche hat mich anfangs auch genervt. Hat sich irgendwann gelöst.

    1. Lieber Oblomow,
      das kann ich nur unterstreichen, wie Proust Erinnerungen zurück holt, das war und ist auch für mich ein grosser Gewinn. Das nehme ich für mich auf, nutze es, um eigene Erinnerungen zu triggern und zurück zu holen.
      Und diese Erinnerungen tausche ich dann auch gerne mit meinem Freund aus, mit dem Zusammen ich das Buch (die Bücher) lese.

  2. Lieber Tobi,
    einfach toll, dass Du Proust zum Thema machst, ein Autor von Weltrang, dessen Lektüre ich lange vor mir hergeschoben habe. Nun lese ich »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit gemeinsam mit einem Freund, mit dem ich mich dazu per Videokonferenz austausche. Wir stecken noch im Abschnitt »Unterwegs zu Swann«, knapp 100 Seiten, aber genug für einige Eindrücke.
    Ein Buch, das ich aufgrund seiner Komplexität lieber am Schreibtisch lese, und mir Notizen dazu mache, Du hast mit Recht auf die verschachtelten Sätze hingewiesen.
    Du schreibst, er wollte ein Sittenbild seiner Zeit wieder geben, ich nehme eher seinen Titel wörtlich: Die Momente des Lebens, in dem man sich fragt, wo die Zeit geblieben ist, wie dazu die Erinnerung an diese Momente aussieht. Wie diese getriggert werden, wie Töne, Bilder, Gerüche sie auslösen können. Wie die Erinnerungen, die offenbar chaotisch im Gehirn liegen, gerne von einer zur anderen springen, immer wieder durch Momente neu getriggert, eine Erinnerungskette auslösen.
    Und wo ich sehr gespannt bin, wieweit philosophische Ansätze, die durchblitzen, auch realisiert werden.
    Ich finde nicht, dass es bei Proust eine Aneinanderreihung von Momenten in seinem oder einem fiktiven Leben ist, es sind die Ergebnisse seiner Suche, nach der (verlorenen) Zeit, nach Erinnerungen. Wobei ich nicht weiß, wieweit hier eine unterschiedliche Wahrnehmung in den verschiedenen Textgrundlagen liegt.
    Ich habe keinen Tiefgang im Text vermisst, der steckt doch in den Texten selbst, in der hyper-sensiblen Wahrnehmung. In der unglaublichen Poesie vieler Sätze, die man auf sich wirken lässt, wie einen ganz alten Armagnac.
    Wo hast Du Gefühlskälte bei ihm empfunden, bei einem Autor der schreibt, dass er den Kuss der Mutter ganz vorsichtig in sein Schlafzimmer tragen muss?
    Über die Schönheit der Sprache hast Du sehr treffend geschrieben, für mich drückt er damit oft Gefühle aus, die mit meinen eigenen stark übereinstimmen.
    Vor zehn Jahren hätte ich Proust nicht lesen können, jetzt bin ich in einer ganz anderen Lebensphase, lese – nicht nur Proust – ganz anders. Vielleicht hängt von der Lebensphase und Situation, in der man selbst ist, viel ab, wie man einen hypersensiblen Text wie den von Proust wahrnimmt.
    Nochmal danke, dass Du Proust rezensiert hast.

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