Gentleman über Bord • Herbert Clyde Lewis

Ein New Yorker Geschäftsmann fällt unbemerkt von einem Schiff in den Pazifik, das Schiff fährt weiter und lässt ihn inmitten des weiten Ozeans zurück. Völlig alleine und umgeben von dem unendlichen Meer, was für Gedanken hat da ein Mensch, was geht in ihm vor, was geht ihm durch den Kopf? Der neue mare Klassiker Gentlemen über Bord hat sich diese Geschichte zum Thema gemacht. Ein spannendes Meisterwerk oder verfehlt das Buch den Erwartungen, die dieser Klappentext weckt? Finden wir es heraus.

Was die mare Klassiker angeht, greife ich mittlerweile blind zu jedem Buch, dieser gelungenen Reihe. Über Jahre lese ich nun jeden Roman und bin noch nie enttäuscht worden. Teils erwarten den Leser unbekanntere Bücher von berühmten Autoren, immer wieder hebt der mare Verlag aber wenig bekannte Text mir völlig unbekannter Autoren. Gentleman über Bord ist so ein Buch, das 1937 erschien und noch nie in deutscher Sprache erschienen ist.

Bei der mare Klassiker Reihe weiß ich, dass es nicht nur einfach Klassiker sind, sondern dass darin auch immer das Meer zu finden ist. Und zwar immer mit seiner mannigfaltigen Vielgestaltigkeit, die immer wieder anders zum Ausdruck kommt, aber dennoch immer die ganz typischen Zwischentöne einfängt, die dem Meer auf ganz eigene Art anhaften. Das ist wirklich bemerkenswert, vor allem, dass das nun nach so vielen erschienenen Büchern über all die Jahre hinweg so gut funktioniert. Auch bei diesem Buch ist das so und wenn man es liest, dann fühlt man das Meer zwischen den Zeilen und bei diesem Roman natürlich auch oft ganz vordergründig.

Als ich das Buch bekommen und das erste Mal in die Hand genommen habe, war ich von der Optik ein bisschen enttäuscht. Es hat natürlich wieder die gewohnte hochwertige Aufmachung, mit Fadenheftung, Leineneinband, Schuber und der sorgfältigen Gestaltung. Von der Farbgebung und dem sehr schlichten an art déco angelehnten Stil, ist es für mich optisch eher in den hinteren Reihen, gemessen an den anderen wunderschönen Büchern. Auch von dem Umfang war ich enttäuscht, die eigentliche Geschichte umfasst gerade einmal 153 Seiten, die zudem mit leeren Zwischenseiten zwischen den Kapiteln zusätzlich gestreckt wirken.

Als ich zu dem Buch gegriffen habe, war ich grundsätzlich eher lustlosen Gemüts und hab es dann Abends also auch eher lustlos zur Hand genommen und wollte nochmal ein paar Seiten davon anlesen, um danach zu Bett zu gehen. Und ich hab es nicht mehr weggelegt und war nach kurzer Zeit so gefesselt von der Handlung, dass ich unbedingt wissen wollte, wie die Geschichte ausgeht. Diesen Effekt habe ich selten so schnell und auch selten bei so kurzen Texten.

Lewis schreibt mit klaren Sätzen, die tendenziell eher kurz ausfallen und die Situation und die Gedanken seines Protagonisten Standish klar wiedergeben. Es fällt dem Leser also auch leicht, in die Geschichte rein zu kommen und nachzuvollziehen, was Standish da mitten im Meer erlebt, fühlt und denkt. Lewis kurzer Roman zeichnet sich durch viel erlebte Rede aus und zusammen mit kurzen und präzisen Sätzen, die auch dem alltäglichen Denken entspringen könnten, ist völlig nachvollziehbar, was der Protagonist erlebt. Gleichzeitig taucht auch immer wieder eine gewisse Ironie auf und der Charakter von Standish ist sehr seinem soziokulturellen Hintergrund verhaftet, was wiederum für eine gewisse Distanz beim Lesen sorgt. Es entsteht im Leser ein ausgewogenes Gefühlsleben, dass nicht zu viel Mitgefühl, aber auch keineswegs Gleichgültigkeit weckt. Auf der einen Seite ist man entsetzt, fühlt die Situation gut nach, denkt sich beim Lesen, wie das wohl sein mag, so alleine mitten im Meer voller Hoffnung und zugleich erfüllt von Hoffnungslosigkeit. Auf der anderen Seite ist Standish kein Charakter, der dem Leser sehr ans Herzen wächst.

Der gesamte Roman spielt sich im Meer ab, wie Standish dort die Stunden verlebt. In Rückblicken und kurzen Episoden erfährt der Leser, was sich früher zugetragen hat, wie Standishs Lebensumstände sind und waren, was für ein Leben er geführt hat, was für ein Mensch er ist und bekommt auch einen Einblick, was sich an Bord des Schiffes zuträgt, von dem der Protagonist gefallen ist. Dabei zeichnet er ein interessantes Bild von der amerikanischen Gesellschaft der 30er Jahre. Der Protagonist ist ein Geschäftsmann, der von seinem Leben, seiner Persönlichkeit und seinen Lebensumständen ein völlig langweiliger, durchschnittlicher und unbedeutender Typ ist, dessen Verhalten, Denken und Handeln stark von den Werten seiner Zeit geprägt sind. Ich denke Lewis hat ihn bewusst zu einem Stereotyp der damaligen Zeit und dieser sozialen Schicht gemacht. Sehr spannend und gelungen ist es, wie sich genau dieser Typus auch im Denken wieder findet und wie deutlich diese Gedanken und das Handeln auch in der extremen Notsituation zum Tragen kommt.

Die Besatzung des Schiffs, der Kapitän, der erste Offizier, aber auch die wenigen anderen Fahrgäste des primär als Frachter eingesetzte Schiff, stellen einen Spiegel der damaligen Gesellschaft dar. Man merkt, dass sich hier Lewis Gedanken gemacht hat und ganz bewusst auch die Gesellschaft vorführt, wenn er dem immer Anzug tragenden und hoch geschlossene Geschäftsmann plötzlich einen einfachen Landwirt auf Weltreise gegenüberstellt, oder ein bigottes Ehepaar auftreten lässt. Auch wie Lewis die Umstände arrangiert, finde ich sehr gelungen, auch wenn es vielleicht konstruiert wirken mag, ist es völlig realistisch. Wie er die kleinen Zufälle beschreibt, die schließlich zu der Situation führen, die das zentrale Sujet des kurzen Romans ausmachen.

Als Leser ist man einfach gebannt, von den erschreckenden Momenten auf dem Meer und um so mehr man liest, um so mehr möchte man wissen, was nun mit Standish passiert. Man hofft mit ihm, gleichzeitig ist man aber auch nicht zu sehr betrübt, falls es mit der Rettung doch nichts werden sollte. Aus jetziger Perspektive ist der Roman noch interessanter, denn man vergleicht sich selbst intuitiv mit Standish und fragt sich, wie man selbst reagieren würde.

Nach der Lektüre fand ich das Buch noch immer eines der weniger Schönen der Reihe, bin aber erneut erstaunt, wie gut die Buchgestaltung wieder einmal den Inhalt widerspiegelt. Das Grau des Einbandes, so stelle ich mir das Meer vor, wenn es sich völlig glatt vor einem erstreckt, wobei Lewis das Meer im Sonnenaufgang an diesem verhängnisvollen Morgen als „ungewöhnlich knausrig“ beschreibt. Gleichzeitig spiegelt dieser graue Farbton auch sehr schön den farblosen Charakter des Protagonisten wider. Das Bild auf dem Einband zeigt das Schiff, die Arabella, wie sie sich in Richtung der aufgehenden Sonne von Standish entfernt. Der Art déco Stil in dem das Buch gehalten ist, passt natürlich hervorragend zu den New Yorker Geschäftsmann. Die Buchgestaltung trifft einfach den Inhalt der Geschichte hervorragend.

Herbert Clyde Lewis wurde 1909 als Sohn russisch-jüdischer Einwanderer in New York geboren und führte wohl ein sehr rastloses Leben. Er arbeitete als Reporter und Drehbuchautor, lebte in Shanghai und starb mit gerade einmal 41 Jahren, wobei er wohl auch Alkohol- und Medikamentensüchtig war und immer wieder Probleme mit Schulden hatte, da er über seine Verhältnisse lebte. Das verrät das Nachwort, das wieder ganz interessante Hintergrundinformationen zum Autoren enthält.

Fazit: Ich fand Gentleman über Bord sehr spannend, habe es an einem Abend verschlungen und wollte bis zum Schluss einfach wissen, was mit dem Protagonisten passieren würde. Wie Lewis das Denken eines Menschen darstellt, der in die Notsituation kommt, alleine im offenen Meer verloren zu sein und wie er diese Gedankenwelt in Bezug zu den kulturellen und sozialen Hintergrund aufbaut, ist wirklich sehr gelungen. Das wieder sehr hochwertig verarbeitete Buch ist erneut sehr stimmig gestaltet, auch wenn es mit seinem Grau nicht so schön ist, wie die anderen Bücher der Reihe. Mit seinem geringen Umfang ist es in einem Abend ausgelesen und eine sehr lesenswerte Lektüre, die das Meer wieder von einer ganz eigenen Seite portraitiert und dem Leser mit seiner weiten Gleichgültigkeit spüren lässt, wie klein und verloren der Mensch in dieser Natur sein kann.

Buchinformation: Gentleman über Bord • Herbert Clyde Lewis • mare Verlag • 176 Seiten • ISBN 9783866486966

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