Ulysses: Gemeinsam mit einer KI Bücher lesen

Ulysses von James Joyce gilt als eines der am schwersten zugänglichen Werke der Weltliteratur. Es ist vollgepackt mit zahlreichen oft subtilen und schwer verständlichen Anspielungen und Andeutungen auf Mythologie, auf Politik, Religion, das Zeitgeschehen und andere literarische Werke. Zwischen den Kapiteln werden zahlreiche unterschiedliche Stilmittel verwendet und dabei wird auch ganz stark die Technik des Bewusstseinsstroms verwendet, was ein Lesen noch verwirrender macht. Ich habe mich gefragt, ob hier ChatGPT nicht ein gutes Mittel der Wahl ist, um dieses Buch besser zu verstehen. Ob eine gemeinsame Lektüre unterstützt mit ChatGPT nicht eine wunderbare Ergänzung ist und das Lesen dieses Werkes damit zur leichten entspannenden Reise in Joyce Welt wird. Ich habe es ausprobiert und hier erfahrt ihr, ob ChatGPT ein guter Lesepartner ist.

Hochwertige Neuauflagen von Klassikern bieten neben einer aktuellen Übersetzung oft auch einen umfangreichen Anhang mit zahlreichen Anmerkungen. Diese dienen dazu, dem Leser zusätzliche Informationen zu liefern und den Text und seine Hintergründe zugänglicher zu machen. Es gibt Bücher, da ist das eine angenehme Ergänzung, aber nicht zwingend notwendig. Und dann gibt es Bücher wie Ulysses von James Joyce. Der Text ist derart schwer zugänglich und sperrig, dass die üblichen Anmerkungen hier völlig versagen und der Leser weiterhin im Dunklen tappt und mit wenigen Randnotizen ist hier wenig geholfen.

Es gibt eine kommentierte Fassung von Ulysses, ein dickes Monster, das auf jeder Seite, um den Originaltext herum, Erläuterungen und Erklärungen enthält. Allerdings macht das die Lektüre zusätzlich anstrengend. Wäre es da nicht viel besser, ChatGPT zu befragen? Immerhin kann man da ganz explizit Fragen stellen, sich einzelne Textpassagen erläutern lassen oder ein ganzes gelesenes Kapitel erklären lassen. Und ChatGPT sollte Ulysses schon sehr gut kennen, denn an dem Werk kauen und kneten Literaturwissenschaftler schon seit über hundert Jahren herum. Da dürfte doch die ein oder andere Abhandlung inklusive dem ganzen Buch ziemlich sicher in der Trainingsmenge von ChatGPT sein. Anders ist es vielleicht bei unbekannteren Büchern, aber Ulysses sollte eigentlich das perfekte Buch für so ein Experiment sein.

Ich habe also das erste Kapitel gelesen und das habe ich als ganz gut verständlich empfunden. Das zweite Kapitel ist schon zäher gewesen, aber auch da konnte ich einigermaßen folgen. Das dritte Kapitel ist dann komplett verwirrend. Darin unternimmt Stephen einen Spaziergang am Meer und der Leser erlebt seine sprunghaften Gedanken, Erinnerungen, den eigentlichen Spaziergang und taucht voll ein in den Gedankenstrom von Joyce Protagonisten. Das ist völlig verwirrend für den Leser und dieses Gemenge ist beim einmaligen Lesen kaum zu durchschauen. Extrem ist auch das siebte Kapitel, wo Bloom zwischen Journalisten und Zeitungsleuten unterwegs ist und zahlreiche Figuren, ohne dass sie eingeführt werden, ein Gespräch führen. Schön deutlich wird der lockere, respektlose und oft zynisch wirkende Ton der Journalisten, wie man ihn auch bei anderen Romanen antrifft, welche dieses Gewerbe kritisch betrachten. Aber inhaltlich ist das schwer zu begreifen, was hier diskutiert wird. Es gibt in den Kapiteln Passagen, die sind ganz gut zu verstehen, wenn Bloom tatsächlich unterwegs ist, beispielsweise das sechste Kapitel Hades, aber auch da hat man das Gefühl, dass einem beim normalen Lesen ganz viel entgeht. Es gibt einfach sehr viele Abschnitte, wo man einfach nichts versteht, die völlig verwirrend sind.

Fängt man nun an ChatGPT nach dem Inhalt der einzelnen Kapitel zu befragen, so bekommt man dort durchaus brauchbare Antworten. Allerdings sind diese sehr stark gerafft. Sieht man sich den Wikipedia Artikel zu dem Buch an, so findet man auch dort eine sehr detaillierte Auflistung der einzelnen Kapitel mit ihren zentralen Themen und Aussagen. Auf dieser Ebene ungefähr bewegen sich die ChatGPT Aussagen, wenn man einfach nach den einzelnen Kapiteln fragt. „Worum geht es im ersten Kapitel von Ulysses?“ kann man also ChatGPT ohne Bedenken stellen und bekommt eine kurze Antwort. Wenn man das nun für das sehr schwer verständliche dritte Kapitel macht, ist das ganz nett, aber bringt einen nicht viel weiter.

Also habe ich weiter gefragt. „Welche fremdsprachigen Passagen kommen im dritten Kapitel vor. Übersetze sie mir.“. ChatGPT listet mir drei Zitate auf, beispielhaft, die ich im Kapitel nicht finden kann. Wenn ich mir alle französischen Zitate auflisten lassen möchte, bekomme ich zwei genannt (die ich wieder nicht finden kann) und die Aussage, dass es keine Weiteren gibt. Hier scheint ChatGPT zu versagen und wenn ich das mit einer Liste im Netz vergleiche, dann ist die menschliche Recherche hier deutlich vertrauenswürdiger und vollständiger.

Dann wollte ich wissen, worüber die Figuren in dem siebten Kapitel (das mit den Journalisten und ihren verwirrenden Dialogen) genau besprechen. Auch hier kommt eine sehr oberflächliche und abstrakt formulierte Aussage, die mir unvollständig erscheint und wenig erhellend ist. Wenn ich um Beispiele bitte, dann wird auf ein paar einzelne Wörter Bezug genommen, insgesamt wird aber wieder abstrahierend argumentiert. Wer von dem Kapitel nahezu nichts versteht, der findet hier keine Hilfe oder Orientierung.

Auf diese Weise habe ich versucht ChatGPT weitere Informationen zu entlocken. Und das war dann erstaunlich mühsam, denn man muss der KI alles aus der Nase ziehen und man merkt, dass sie darauf optimiert ist, zusammenfassende Antworten zu geben. Auch wenn einem die KI bei anderen Fragen als zu geschwätzig vorkommt, ist sie bei einem Text wie Ulysses viel zu knapp in ihren Antworten. Auf sehr detaillierte Fragen nahmen allgemeine abstrahierte Aussagen einen großen Raum ein, beispielsweise kommt zu einer Detailfrage: „Es ist wichtig zu beachten, dass „Ulysses“ ein sehr komplexes Werk ist und viele Schichten und Bedeutungsebenen hat, weshalb es von vielen Lesern und Literaturkritikern als eines der bedeutendsten Werke der modernen Literatur angesehen wird.“. Der Versuch die einzelnen Kapitel inhaltlich gruppieren und diese Abschnitte sich erklären zu lassen, hat auch nur mäßig funktioniert. So wurde der gedachte Besuch der Tante im dritten Kapitel gar nicht erwähnt, spätere Abschnitte werden so abstrakt erklärt, dass man den Bezug zum Text nur schwer herstellen kann (z.B. blieb der Hund und andere wichtige Elemente völlig unerwähnt).

Ich gebe zu, Ulysses ist eine harte Nuss. Für den menschlichen Leser und damit auch für eine KI. Aber die Auskünfte von ChatGPT haben so gar nicht geholfen, die Kapitel besser zu verstehen oder ihre Details zu durchdringen. Ich habe auch versucht nach einzelne Abschnitte zu fragen. Also beispielsweise „Wie lautet der vierte Absatz im dritten Kapitel und worum geht es darin?“. Aber da kommen dann schnell falsche Antworten, mit falschen Textabschnitten, die so im Buch nicht zu finden sind (auch nicht, wenn man die Übersetzung vom Englischen ins Deutsche berücksichtigt). Ich war mir auch nie sicher, ob das, was ChatGPT schreibt auch korrekt ist. Nachdem ChatGPT nie mit richtigen Textausschnitten argumentiert hat, ist auch nie klar, woher die Informationen kommen, ob sie vollständig sind und ob sie auch wirklich korrekt sind. Das ist natürlich ein grundsätzliches Problem mit ChatGPT, das hier sehr deutlich in Erscheinung tritt. Besonders dann, wenn zahlreiche Passagen in Folge beim Lesen sehr unverständlich und undurchsichtig sind.

Die Lektüre von Ulysses ist mühsam und wer das Buch in großen Teilen verstehen und nicht einfach nur runterlesen möchte, der muss es durcharbeiten. Abschnitt für Abschnitt, Satz für Satz, muss es auf sich wirken lassen und entsprechendes Vorwissen mitbringen, um subtile Anspielungen und die zahlreichen humorvollen Spitzen zu verstehen. ChatGPT erschien mir als Quelle und als Hilfsmittel hier wenig hilfreich. Wenn man in die Tiefe gehen möchte, dann muss man hier schon sehr genau nachfragen, die Antworten sich immer weiter ausdetaillieren lassen und kann sich am Ende nicht sicher sein, ob das auch stimmt, was da geschrieben wird. Für eine oberflächliche Betrachtung erschien mir ChatGPT gut geeignet, aber auch hier fand ich den Wikipedia-Artikel oder die Ergebnisse einer kurzen Google Recherche deutlich übersichtlicher und hilfreicher.

Ich muss dazu sagen, dass ich diesen aktuellen Hype um künstliche Intelligenz sehr spannend finde und ChatGPT ist einfach ein geniales Werkzeug. Zahlreiche Dinge lassen sich damit einfach wunderbar lösen und ich habe auch für ein privates Projekt schon die OpenAI API mit wirklich hervorragenden Ergebnissen angebunden. So wie bei allem gibt es Anwendungsfälle, die sich mit ChatGPT sehr gut umsetzen lassen und andere, wo es aktuell noch weniger gut geeignet ist. Man merkt aber auch, dass ChatGPT immer besser wird und der Datenbestand laufend erweitert wird. So wurde erst vor ein paar Tagen berichtet, dass ChatGPT nun Zugriff auf das Internet hat und nicht mehr ausschließlich auf Informationen bis September 2021 beschränkt ist. Und diese Verbesserungen merkt man auch. Kurz nach dem öffentlichen Release von ChatGPT habe ich nach „Welche Völker gibt es in Tad Williams Osten Ard?“ gefragt und dabei kam völliger Käse raus. Nun wird die Frage korrekt beantwortet. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ChatGPT irgendwann auch mit aktuellen Büchern trainiert wird. Ich habe beispielsweise eine der Liebesgeschichten von Lagerlöf in ChatGPT kopiert (in mehrere Happen, denn das Eingabefeld ist von der Länge begrenzt) und habe dann Fragen zu der Geschichte gestellt. Das hat hervorragend funktioniert.

Fazit: Natürlich habe ich es mir sehr leicht gemacht und die Erwartungen waren zu hoch. Der Wunsch wäre gewesen, dass ChatGPT ein Kapitel nimmt und im Detail ausführt worum es geht, schwierige Abschnitte von sich aus erläutert, fremdsprachige Zitate von sich aus übersetzt, inhaltlich zusammenhängende Passagen gruppiert und gesammelt erläutert. Diese Informationen bekommt man vielleicht irgendwie auch aus ChatGPT heraus, aber es ist mühsam und mit der Unsicherheit behaftet, ob da nicht doch falsche Schlussfolgerungen enthalten sind. Die Lektüre von Ulysses bleibt also ein anstrengendes Unterfangen und wer ein tiefes Verständnis für den Text entwickeln will, der bekommt das nicht geschenkt, der muss sich intensiv mit den einzelnen Kapiteln auseinandersetzen, recherchieren, weiterführende Quellen in Anspruch nehmen und viel Geduld mitbringen.

5 Kommentare

  1. Ein interessanter Ansatz.
    Vielleicht ist es eins der Dinge, die wir einer KI voraus haben, dass wir Bücher interpretieren, verstehen, und lieben können.
    Die kognitiven Fähigkeiten des menschlichen Gehirns beim Lesen sind bemerkenswert, das kann keine KI oder Machine Learning leisten.

    1. Lieber Thorsten,

      vielen lieben Dank für Deinen Kommentar. Ich sehe es wie Marcel, wenn die Trainingsmenge stimmt, dann wären die Ergebnisse deutlich besser. Ich bin auch immer überrascht, wie gut das Verständnis von ChatGPT ist. Beispielsweise die Erzählung von Lagerlöf, die ich in ChatGPT hineinkopiert habe und zu der ich dann Fragen gestellt habe. Die Antworten waren schon sehr nuanciert und man hat einfach das Gefühl, dass ChatGPT ein Verständnis dafür hat und auch Feinheiten sehr gut interpretiert. Und ChatGPT wird immer besser, das muss man sagen, wenn ich an die im Beitrag erwähnte Frage denke, die ich zu Tad Williams Büchern gestellt habe. An die Fähigkeiten des menschlichen Gehirns in seiner Gesamtheit kommt die KI natürlich nicht heran. Wenn man allerdings bedenkt, was für eine Menge an Informationen, Daten und Fakten in so einer KI enthalten sind, dann kann sie in verschiedenen Disziplinen das Gehirn definitiv in den Schatten stellen. Allerdings empfinde ich ChatGPT weniger als eine Konkurrenz für den Menschen und seine Denkleistung als vielmehr als ein Werkzeug.

      Lieben kann eine KI ein Buch sicher nicht, aber ChatGPT könnte überzeugend so tun, als wäre es so 🙂

      Liebe Grüße
      Tobi

  2. „Die kognitiven Fähigkeiten des menschlichen Gehirns beim Lesen sind bemerkenswert, das kann keine KI oder Machine Learning leisten.“

    Das is alles eine Sache des Trainings. ChatGPT verbindet ja quasi nur in ‚intelligenter‘ Weise das vorgefundene, eingespeiste Wissen.

    Man muss sich immer wieder vor Augen halten dass das Internet nicht ‚das Wissen‘ der Welt repräsentiert, sondern nur einen Ausschnitt – es gibt immer noch unzählige Publikationen, die nicht frei verfügbar, also auch nicht von der KI zu verarbeiten sind – also auch nicht ‚existieren‘ für das Internet-Wissen.

    Hätte ChatGPT Zugriff auf ein paar Regalmeter „Ulysses“-Deutung, dann käme etwas heraus was man von einer („kognitiven“) menschlichen Äußerung nicht unterscheiden könnte. Aktuell kann es halt nur – vereinfachend gesagt – etwas Wikipedia mit greifbaren Infos aus dem Netz verknüpfen. An all die wissenschaftlichen Arbeiten über Joyce kommt es halt (noch) nicht so einfach ran.

    Hier gibts das Werk interaktiv kommentiert:
    http://m.joyceproject.com/

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