Vater Goriot • Honoré de Balzac

Der unangefochtene Meister der Literatur ist für mich Honoré de Balzac. Ich habe von keinem Autoren so viele Bücher verschlungen, wie von Balzac und ich habe es so genossen in sein Paris zur Zeit der Restauration abzutauchen. Seine Romane und Novellen beschreiben die Sitten seiner Zeit, allerdings nicht als schnöde Beschreibungen, sondern als spannende Geschichten, die alles umfassen, was den Menschen und die Gesellschaft ausmachen. So findet man in den Romanen rasante Liebesgeschichten, den Aufstieg und Fall von Menschen aus verschiedensten sozialen Schichten. Es geht um die Gesellschaft, Geld, Krieg, Politik und einfach alles, was den Menschen im Einzelnen und Gesamten ausmacht. Vater Goriot ist ein Buch, dass einen sehr guten Einblick in Balzacs Werk gibt. Es enthält eine Geschichte, die spannend und bewegend ist und einzelne sehr wichtige und sehr gelungene Figuren aus seinem Kosmos einführt. Frankreich Anfang des 19. Jahrhunderts, ein alter langweiliger Käse oder aktuell wie nie? Lest Vater Goriot oder diesen Beitrag, dann erfahrt ihr es.

In Vater Goriot geht es um Eugène de Rastignac, einem eher armen Spross einer adeligen Familie, der aus der Provinz nach Paris kommt, um dort zu studieren. Er kommt in einer armen und elenden Unterkunft unter, wo er auf den verarmten Nudelfabrikanten Vater Goriot trifft. Schnell wird Eugène aufgrund seiner adeligen Abstammung in die höheren Gesellschaftskreise eingeführt. Dort taucht er in das schillernde, prunkvolle und verschwenderische Paris ein, während er zugleich in Vater Goriot die Schattenseite dieser Gesellschaft kennenlernt.

Wie von Balzac gewohnt, beginnt der Roman erst einmal mit einer Beschreibung der Umgebung. Das ist sehr typisch für Balzacs Stil, dass er zuerst die Kulisse zeichnet. Dann nimmt die Geschichte aber Fahrt auf und der Leser lernt zusammen mit Eugène nach und nach die Pariser Gesellschaft kennen. Das reicht von den urigen, elenden und verarmten Pensionsbewohnern bis hin zu den reichen Adeligen. Ich fand das sehr fesselnd zu lesen, besonders wenn dann Liebe und Leidenschaft eine Rolle spielt und es dann so richtig emotional wird, ganz so, wie es bei den französischen Autoren dieser Zeit oft der Fall ist. Die Charaktere wirken authentisch und echt und Balzac stellt Eugènes Gefühle, Gedanken und Beobachtungen hervorragend dar. Ich konnte jederzeit mit ihm fühlen. Die ganze Geschichte ist einfach gut gelungen und hervorragend komponiert.

Eine Szene, die mir besonders gefällt, ist die, wo Vautrin dem jungen Eugène erklärt, wie die Pariser Gesellschaft tickt. Das ist einfach ein Meisterwerk. Wie Balzac das Paris seiner Zeit beschreibt, wie Vermögen gemacht werden, wie er den völlig zynischen und desillusionierten Vautrin erzählen lässt. Und Balzac streut hier seine Weisheiten ein, das ist einfach ein Fest zu lesen. Zum einen ist es sprachlich auf höchstem Niveau, zum anderen stellt hier Balzac die menschliche Gesellschaft auf einer abstrahierende Weise dar. Man denkt sich mehr als einmal, dass es genau so läuft, genau so ist es im Hier und Jetzt auch. Das macht seine Bücher so besonders: Das was Balzac beschreibt, das passiert auch jetzt. Ich kann mich an seinen Roman César Birotteau erinnern, wo er beschreibt, wie ein paar Banker Immobiliengeschäfte machen und dabei ahnungslose Investoren abziehen. Oder Das Bankhaus Nucingen, das regelmäßig pleite geht und daraus riesige Profite zieht. Wer Nachrichten liest und sich ein bisschen informiert, der wird feststellen, all das ist noch da, all das passiert auch unserer Tage und die Gesellschaft hat sich nicht maßgeblich verändert. Balzac interpretiert und wertet hier ganz ohne Hemmungen.

„Das Götzenbild der Völker ist die Freiheit; aber wo auf Erden lebt denn ein freies Volk?“

Die Sprache Balzacs ist wundervoll. Er hat lange und wohlklingende Sätze, eine wunderbare Sprachmelodie, er streut sehr gelungene Vergleiche ein und beschreibt seine Szenen und Charaktere mit bildhaften und hervorragend gewählten Worten. Ich genieße jedes Mal seine Sätze und es ist beeindruckend, wie er eine Szene beschreibt und dann taucht da ein prunkvoller Satz auf, den man einfach mehrfach lesen muss, weil er so treffend und wohlklingend ist.

„Mit etwas mehr Glück im Leben wäre sie bezaubernd gewesen: denn das Glück macht die Poesie der Frauen aus, wie das Kleid ihren Putz.“

Vater Goriot ist ein Roman aus Balzacs Hauptwerk, das er in seiner Gesamtheit Die menschliche Komödie nennt. In Anlehnung an Dantes göttliche Komödie, wobei Balzac ein umfassendes Sittengemälde der französischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts schaffen wollte. Quer durch alle Schichten, vom kleinen Bürger, zum Bewohner der Provinz, bis hin zum hohen Adel, ist in seinen Romanen alles zu finden. 137 Romane sollte seine menschliche Komödie umfassen, bis zu seinem Tod vollendete er leider nur 91.

Das Besondere ist, dass Balzac zahlreiche Charaktere immer wieder auftreten lässt. Eugène de Rastignac taucht in insgesamt 28 Romanen auf. Über 3000 Figuren soll er in seinen Romanen erschaffen haben. Faszinierend ist, wie er die Figuren miteinander verzahnt und wie sie immer wieder einen gemeinsamen Auftritt haben und manchmal nur ganz am Rande, manchmal aber auch als Hauptfigur auftauchen. Jemand hat sich sogar den riesigen Aufwand gemacht, einen Stammbaum mit allen Figuren zu zeichnen. Den Stammbaum, der auch im Balzac Museum in Paris ausgestellt ist, habe ich mir natürlich besorgt, worüber ihr in diesem Beitrag lesen könnt.

1799 in Tours (Frankreich) geboren, hat Balzac die Nachwirkungen der Revolution und die Zeit der Restauration selbst miterlebt. Seine freudlose und lieblose Kindheit verbrachte er im Internat und wurde dann von seinen Eltern dazu gedrängt Jura zu studieren. Das hat er aber glücklicherweise recht bald abgebrochen und seinen Vater davon überzeugt, ihn zwei Jahre lang finanziell zu unterstützen und die Möglichkeit zu geben, sich als Schriftsteller zu etablieren. Die Anfangsjahre waren für ihn ziemlich karg und nur vom mäßigen Erfolg gekrönt. Sein Werdegang liest sich zum Teil wie ein Roman und zeigt ein bewegtes und vielfältiges Leben. Anfang der 1830er Jahre schafft er seinen Durchbruch.

Ich habe Vater Goriot als Ausgabe vom Diogenes Verlag. Für meine erneute Lektüre des Buches habe ich aber die Ausgabe von Ernst Sander in der Gesamtausgabe vom Goldmann Verlag gelesen. Diese habe ich mir schon vor Jahren besorgt, als ich bemerkt habe, dass einfach jedes Buch von Balzac extrem gut ist. Die Gesamtausgabe bekommt man leider nur noch gebraucht. Meine habe ich aber mit neuen selbst gestalteten Cover versehen und nochmal ordentlich gepimpt. Darüber habe ich in diesem Beitrag geschrieben.

Fazit: Honoré de Balzacs Bücher sind Meisterwerke. Vater Goriot ist ein wunderbares Buch, das einen hervorragenden Einblick in seine Welt gibt und das weite Spektrum Balzacs Schaffen sehr gut abbildet. Sein Schreibstil ist meisterhaft, seine wunderschönen langen Sätze haben eine perfekte Sprachmelodie, seine bildhaften Vergleiche und Darstellungen suchen seinesgleichen und seine abstrahierenden und allgemeingültigen Wertungen sind einfach immer treffend und voller Weisheit und Lebenserfahrung. Die Geschichten sind spannend und mich haben besonders die Liebesgeschichten immer völlig in den Bann gezogen. Dieses wunderschöne prunkvolle Paris und gleichzeitig die Abgründe, die sich darin auftun, das ist einfach wunderbar zu lesen. Spannend und umfassend, aktuell wie nie, mit viel Tiefgang, Leidenschaft, mit sehr authentischen Charakteren. Wenn ich ein Buch von Balzac zur Hand nehme, dann habe ich immer das Gefühl, ich sitze mit ihm irgendwo in einer Kneipe, trinke ein Bier und er erzählt einfach, was er so erlebt hat. Und irgendwann trägt es einen dann hinfort, irgendwann merkt man, wie er das Banale verlässt, wie unter dem Firniss einer spannenden Geschichte sich einem eine ganze Welt eröffnet. Ich habe den größten Teil seiner Menschlichen Komödie gelesen. Viele viele tausend Seiten und noch immer kann ich nicht genug von diesem absoluten und unerreichten Höhepunkt der Literatur bekommen.

Buchinformation: Vater Goriot • Honoré de Balzac • 368 Seiten

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