Zeit der Unschuld • Edith Wharton

Immer wieder hatte ich dieses Buch auf meiner Wunschliste und dann angesichts meines hohen Stapels ungelesener Bücher dann doch nie bestellt. Nun ist ebendieser Stapel ziemlich geschrumpft und nachdem ich momentan große Lust auf amerikanische und britische Autoren habe, ist mir dieses Buch schnell wieder in Erinnerung gekommen. Ich habe also zugeschlagen und Zeit der Unschuld gleich nachdem es angekommen ist auch gelesen. Noch während der Lektüre hat dieses Buch Lust auf einen anderen Autoren geweckt, den ich sehr schätze und gerne lese. Wer das ist und ob diese hübsche Manesse-Ausgabe sich lohnt, darüber schreibe ich in diesem Beitrag.

Die Handlung ist im New York der 1870er Jahre angesiedelt. Newland Archer, ein Anwalt aus der Upperclass ist mit der attraktiven und naiven May verlobt. Da taucht Mays Cousine Ellen auf, welche in der Vergangenheit gegen die Konventionen verstoßen hat, gleichzeitig aber wesentlich selbstbewusster und erfahrener ist. Hin und her gerissen zwischen diesen unterschiedlichen Charakteren kommt Newland Archers konservatives Weltbild, das von den festen Strukturen der gehobenen Gesellschaft geprägt ist, ins wanken.

New York und die Zeit der Jahrhundertwende sagen mir als Setting sehr zu. Die Unterschiede zwischen dem alten Europa und der neuen Welt, aber auch das Tempo mit dem sich das aufblühende Amerika geändert hat, ist natürlich ein sehr fruchtbarer Boden für gute Geschichten. Das offenbart sich auch in diesem Roman sehr deutlich. Zentrales Thema von Zeit der Unschuld sind die alten und gewachsenen gesellschaftlichen Strukturen der gehobenen Schicht dieser Zeit. Es galten zahlreiche Konventionen und die Familien waren penibel darauf bedacht, ihren guten Ruf zu wahren und den Erwartungen der Gesellschaft gerecht zu werden. Ich finde es immer ganz interessant, dass die neue Welt dabei immer rückständiger erscheint als die Sitten der europäischen Länder. In diesem Roman ist Newland Archer ein Kind dieser gehobenen Schicht, der mit den Werten und Vorstellungen vertraut ist und diesen vollständig entspricht und erfüllt. Im Zuge der dargestellten Liebesgeschichte wird Archers Weltbild natürlich auf die Probe gestellt und genau dieses Denken hinterfragt.

Seit Anfang an hatte ich das Gefühl, dass ich ein Buch von Henry James lese und vom Stil her ist es wirklich erstaunlich nahe an seinen Büchern, wie beispielsweise Portrait einer jungen Dame. Auch bei Henry James sind die Unterschiede zwischen dem alten Europa und dem neuen Amerika ein beständiges Thema. Ebenso die feine psychologischen Darstellung der Gedanken, die Ausführung der Beweggründe des Protagonisten und die stetige Weiterentwicklung der Gedankenwelt der Charaktere kommt sehr nahe an James Art Romane zu schreiben. Und ich habe mich laufend gefragt, was hier los ist, woher diese starke Ähnlichkeit kommt. Das Nachwort verrät dann, dass James und Wharton befreundet waren und er auch literarisch ihr Mentor war. Trotzdem gibt es natürlich auch Unterschiede. Wharton wird ab einem bestimmten Punkt in der Geschichte deutlicher, verweilt nicht bei den feinen Andeutungen von James und gerade das Ende das Buchs habe ich gerade aufgrund seines direkten Resumés als sehr gelungen empfunden. Bei James hingegen komme ich immer in einen sehr angenehmen, meditativen flow, der eine etwas größere Sogwirkung hat. Wobei ich ab Mitte des Buches Zeit der Unschuld nicht mehr aus den Händen legen wollte, denn es ist schon sehr spannend zu erfahren, was aus der ganzen Sache wird, ob Archer aus diesen starren Strukturen ausbricht.

Wie Wharton diese alte Gesellschaft darstellt, übt natürlich Kritik an dieser, aber führt sie auch nicht vor oder stellt sie bloß. Natürlich ist klar, dass Wharton jemand war, die hinsichtlich der Aufklärung ihrer Zeit weit voraus war und natürlich schimmert auch die Frage nach den Rechten der Frauen in diesen Roman durch, wie beispielsweise folgendes Zitat zeigt:

Er schwieg und wandte sich verärgert ab, um seine Zigarre anzuzünden. „Frauen sollten frei sein, so frei wie wir“ erklärte er, eine Erkenntnis, deren ungeheure Konsequenzen er in seiner Gereiztheit nicht ermessen konnte. (S. 45)

Ich war dann aber überrascht, dass diese Gleichberechtigung dann aber nicht das zentrale Thema war. Vielmehr ging es Wharton um die Darstellung dieser alten Konventionen, dieses gesellschaftlich stark begrenzten Raumes und der Tatsache, dass dieser mit seinen Ansichten bereits im Untergang begriffen war. Und interessant ist eben auch, dass auch in dieser Geschichte das alte Europa wesentlich fortschrittlicher in seinen Ansichten und gesellschaftlichen Normen war, was mich doch immer wieder überrascht. Wobei ich sagen muss, dass das Hauptthema zwar unterhaltsam ist, meiner Ansicht nach aber in diesen Tagen nur noch wenig Relevanz geniest. Wobei ich natürlich keine Ahnung habe, wie es aktuell in der Upperclass so abgeht.

Das Buch lässt sich angenehm lesen, hat eine schöne direkte Sprache und ich konnte mich sehr gut in Archers Gedanken einfühlen. Die Darstellung der Gesellschaft dieser Zeit fand ich ebenfalls sehr unterhaltsam. Die Lektüre ist also sehr angenehm und entspannend. Auch hinsichtlich des Spannungsbogens bleibt man als Leser hier gut bei der Stange.

Edith Wharton, 1862 in New York geboren, wuchs in genau der beschriebenen Gesellschaft auf und kannte sie also bis in ihren Kern mit all ihren Facetten. Ihr Lebenslauf ist alles andere als geradlinig und sie siedelte nach ihrer Scheidung nach Paries um und war sozial sehr aktiv. Als sie 1920 Age of Innocence schriebt, war sie schon eine erfahrene und bekannte Autorin und man merkt dem Buch an, dass sie hier ihr Handwerk schon perfekt beherrschte. 1921 bekam sie dafür auch den Pulitzer-Preis.

Die Ausgabe vom Manesse Verlag hat mir sehr gut gefallen und so habe ich ein bisschen mehr ausgegeben und lieber zu diesem gebundenen Buch gegriffen. Mir gefällt auch das altmodische Foto auf dem Schutzumschlag sehr gut, das zum Inhalt irgendwie gut passt, mit diesem verträumten Gesichtsausdruck, diesem Hauch von 20er Jahre (auch wenn die Geschichte etwas früher spielt). Das Buch ist in ein helles Leinen gebunden, was ich ausnehmend schön finde, hat auch ein passendes Lesebändchen, aber kommt leider ohne Fadenbindung, was ein echter Wermutstropfen ist. Inhaltlich ist die Ausstattung wieder top. Zahlreiche Anmerkungen geben Hintergrundinformationen und es hat definitiv eines der besten Nachwörter die ich seit langem gelesen habe. Sehr informativ bekommt man einen Einblick in Whartons Schaffen und erfährt einige interessante Fakten. Beispielsweise, dass dieses Buch der dritte Entwurf ist und die Geschichte in den ersten beiden Versionen einen ganz anderen Verlauf nimmt. Und eben auch, dass sie mit Henry James viel zusammen war.

Fazit: Zeit der Unschuld ist eine hervorragend gelungene Geschichte über das Ausbrechen aus den festen Konventionen einer Gesellschaft, die sich kulturell bereits damals in seiner Auflösung befunden hat. Mit seinem psychologisch feinen Blick auf die Figuren, seiner zarten Liebesgeschichte, und seiner angenehmen Sprache kann ich dieses Buch sehr empfehlen. Wer Henry James mag, der wird dieses Buch lieben und noch während ich es gelesen habe, musste ich mir gleich ein Buch von Henry James bestellen. Und ich bin mir sicher, wenn ich dann sein Buch lese, werde ich mir ein neues von Wharton holen. Die Manesse Ausgabe ist wunderbar und das Beste ist, dass es nicht das einzige Buch von Wharton ist, dass der Verlag neu aufgelegt hat.

Buchinformation: Zeit der Unschuld • Edith Wharton • Manesse Verlag • 400 Seiten • ISBN 9783717523505

2 Kommentare

  1. Lieber Tobi,
    ich genieße es mir deine Rezension hier durchzulesen. Die Zusatzinformationen sind interessant und es liest sich echt gut! Vielen Dank, dass ich an deiner Leseerfahrung teilhaben kann. 🙂

    LG Moritz

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