Lesejahr: Rückblick und Ausblick
Das Jahr neigt sich dem Ende zu und wenn ich auf die letzten beiden Monate blicke, dann war es erstaunlich ruhig auf diesem Blog. Das lag besonders auch an einigen Krankheitswellen in unserer Familie, die Zeit und Kraft gebunden haben. Dennoch habe ich natürlich immer wieder gelesen, nur hat es mir an Muse und Ruhe gefehlt darüber zu schreiben. Ein bisschen möchte ich das jetzt aber nachholen und zudem einen kleinen Ausblick auf mein geplantes Lesejahr 2023 geben.
Neben fehlender Zeit war in den letzten zwei Monaten auch kein Buch dabei, das für mich so richtig erwähnenswert gewesen wäre. Da ist es dann durchaus besser auch einfach nichts zu schreiben, weil es auch nichts zu sagen gibt. Besonders enttäuscht hat mich tatsächlich Brüder des Windes von Tad Williams. Nachdem sich der nächste und vermutlich letzte Band von Der letzte König von Osten Ard etwas verzögert, hat er diese Erzählung veröffentlicht und ich hatte mir etwas im Format wie Der brennende Mann erwartet. Das ist auch ein dünnes Büchlein, aber erfüllt mit diesem Zauber und Geheimnis um die Sithi, den geheimnisvollen elfenartigen Wesen Osten Ards. Das hat bei Brüder des Windes völlig gefehlt, die Figuren waren platt und stereotyp, die Landschaften fast nicht beschrieben und es war gegen Ende ein ordentlicher Ritt durch alle bekannten Orte der Welt von Osten Ard, aber so lieblos und ohne jeglicher Atmosphäre, dass mich das alles so gar nicht berührt hat. Ein Buch, dass ich Tad Williams aber dennoch verzeihe, denn die ersten Bände seiner neuen Reihe Der letzte König von Osten Ard hatten die altbekannte hohe Qualität und dass er seine Fans über die Verspätung hinweg etwas Unterhaltung bieten möchte, ist durchaus anzuerkennen. Und irgendwie muss er auch seine Rechnungen bezahlen.
Darüber hinaus habe ich auch ein Buch von Jane Austen gelesen, das war aber auch eine lahme Nummer. Ein Buch von Austen ging bisher eigentlich immer, die Geschichten sind einfach nett, ihre Sprache angenehm fein, aber der Plot ist halt doch dann immer der Gleiche und ich fürchte, ich habe zu viel aus diesem Kelch getrunken. An beiden soeben genannten Büchern merke ich, dass es wieder Zeit wird, komplett neue Wege zu probieren.
Das Jahr 2023 verspricht aber auch auf meinen alten Pfaden sehr interessante und lesenswerte Literatur. Gentleman über Bord von Herbert Clyde Lewis kommt im März als neuer Zuwachs in die Reihe der Mare Klassiker. Das hört sich vom Klappentext wieder hervorragend an und wird auch wieder ein super Buch, denn Mare lag bei seinen Klassikern noch nie daneben. Zeitgleich und ebenfalls von Mare erscheint der Kleiner Atlas der Leuchttürme am Ende der Welt. Seit dem Atlas der maritimen Geschichten und Legenden hab ich wieder richtig Lust auf Bücher dieser Art bekommen. Und Leuchttürme am Ende der Welt, das kann nur gut werden, das lädt vom Titel schon zum Träumen ein. Dann hoffe ich natürlich noch auf die oben erwähnte Fortsetzung von Tad Williams Der letzte König von Osten Ard, aber ich vermute das wird dann eher 2024 etwas. Aber wer weiß. Darüber hinaus gibt es bereits erschienene Bücher, die ich mir aktuell ganz bewusst nicht hole, weil ich meinen Stapel ungelesener Bücher erst einmal gut ausnutzen möchte. Liebesgeschichten von Selma Lagerlöf ist bereits im Oktober diesen Jahres im Nikol Verlag für wenig Geld, dafür mit schönem Leineneinband erschienen. Oder auch Der stille Held: Tom Crean: Überlebender der Antarktis von Michael Smith habe ich schon einige Zeit auf meiner Wunschliste. Aber ich bleibe standhaft und bestelle nichts, bevor nicht meine hier vorrätigen Bücher ausgelesen sind.
Kommendes Jahr hoffe ich aber auch auf eine neue Übersetzung von Gaito Gasdanow und ich glaube Jürgen Barck, ein begabter Übersetzer, der in Eigenregie derzeit noch nicht übersetzte Bücher und Erzählungen Gasdanows überträgt, ist sehr produktiv und fleißig bei der Arbeit. Das wäre auf jeden Fall auch wieder ein großes Vergnügen.
Ich habe aber auch etwas anderes gemacht, was ich jedem Leser dieses Blogs empfehlen kann. In den letzten Jahren haben sich einige Bücher bei mir angesammelt. Oft zweite Wahl, also Bücher die ich aus dem Bücherschrank geholt habe, die mir anderweitig irgendwie zugeflogen sind oder die ich mal mit viel Lust darauf gekauft habe aber dann doch nie gelesen habe. Bisher hatte ich immer zwei Stapel ungelesener Bücher, einen im Regal mit den Büchern, die ich unbedingt lesen möchte. Ein zweiten, ganz oben auf dem Bücherschrank, mit Büchern, auf die ich vielleicht ja mal irgendwann irgendwie Lust bekommen könnte. Beide Stapel sind nun nicht übertrieben groß, ich denke da sind andere Vielleser in ganz anderen Dimensionen unterwegs. Während der erste Stapel kontinuierlich schrumpft, verstaubt der zweite oben auf dem Schrank. Daher habe ich dort nun rigoros ausgemistet und die Bücher, die dort nun schon seit Jahren stehen, in eine Kiste gepackt. Die steht jetzt im Keller (meine erste und einzige Bücherkiste im Keller) und die Bücher haben da noch ein Jahr Schonfrist, dann werfe ich sie raus. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit auf ein Buch Lust zu bekommen, zu dem ich seit Jahren schon nicht gegriffen habe?
Ich lese auch immer wieder Sachbücher zu bestimmten Themen, die mich nicht loslassen, zu den ganz großen Fragen aber auch zu Dingen, über die ich selbst immer wieder nachdenke. Diese Bücher sind der Boden für eine Suche, die ich seit meiner Kindheit beschritten habe und die sich wie ein roter Faden durch mein Leben zieht. Mir ist das erst in den letzten Monaten so richtig klar geworden, dass es eine tief in mir sitzende Neugierde ist, die mich all diese Bücher lesen lässt, dem Drängen danach neue Perspektiven zu entdecken und es ist auch die gleiche Neugierde, die sowohl mich, als auch unzählige andere Menschen Nachts die Sterne beobachten lässt oder mit viel Aufmerksamkeit eine neue Platte hören lässt. Und das ist mein Ausblick auf das nächste Jahr: Ich werde dieser Neugierde weiter folgen und sie mit Büchern stillen, bei denen es nahezu klar ist, dass sie mir gefallen und zugleich auch zwischen für mich neuer Literatur abseits des Weges stöbern. Über lesenswerte und beachtenswerte Bücher werde ich wie immer natürlich hier berichten.
Wie sieht es bei euch aus? Wie verhält es sich mit eurem Stapel ungelesener Bücher? Welche Bücher konnten euch dieses Jahr begeistern? Welche Bücher habt ihr für kommendes Jahr auf dem Schirm?
In dem Sinne wünsche ich euch eine besinnliche Zeit und ein schönes neues Jahr 2023 mit vielen guten und lesenswerten Büchern und vielen wunderbaren Lesestunden.
Ach, auch bei mir stapelt es sich wie wild. Ich habe mir vorgenommen, endlich mal ein paar Bananenkisten aus dem Supermarkt zu holen und die Regale zu „entschlacken“. Und zu Sachbüchern habe ich auch immer mal wieder gegriffen. Mir fehlt irgendwie das Lernen und Studieren sehr, das ist dann so etwas wie ein Ausgleich, denke ich. Außerdem lassen sich damit auch ganz andere Themen erkunden. Viele Grüße und einen guten Start ins neue Lesejahr
Bei Jane Austen habe ich das Phänomen, dass ich die Verfilmungen gerne mag, die Bücher aber eher nicht so, vielleicht weil die Geschichten für mich spannend genug sind, um mich zwei oder drei Stunden bei der Stange zu halten, aber nicht um die deutlich längere Lesezeit zu investieren. Wobei ich dieses Jahr nochmals „Stolz und Vorurteil“ gelesen habe, und das auch gern, aber richtig begeistert hat es mich nicht.
Highlights hatte ich wenige, ich kam aber auch nicht so viel zum Lesen. Vergangenen Monat habe ich „Libellenschwestern“ gelesen, das war sehr gut, ebenso wie „Dark Matters“ von Blake Crouch. Die meisten Bücher habe ich allerdings schon wieder vergessen.
Einen Stapel ungelesener Bücher habe ich nicht, nur eine Merkliste in der Onleihe. Wenn ich ein Buch kaufe, dann will ich es unbedingt haben und sofort lesen, das mache ich dann auch.
Viele Grüße
Claudia
Zunächst einmal: Uns allen ein friedliches und gesundes Lebens-, Liebes-, Arbeits- und natürlich Lesejahr 2023!
Jane Austen lese ich immer wieder mit dem größten Vergnügen: Kaum ein/e Schriftsteller/in verfügt wohl über einen so wunderbaren und humorvollen Esprit.
Doch wenn man einmal die Story „Stolz und Vorurteil“ aus der Perspektive des dortigen Dienstpersonals mit naturgemäß ganz anderen Sorgen und Nöten lesen möchte, ist wohl Jo Bakers „Im Hause Longbourn“ obligatorisch.
Ich selbst bin auf dieses Buch, das ich mir für dieses Jahr vorgenommen habe, rein zufällig gestoßen.
Aus irgendeiner Mängelexemplar-Bücherkiste hatte ich Jo Bakers „Ein Ire in Paris“ gefischt. Hier ging es um eine Lebensepisode des Nobelpreisträgers Samuel Beckett auf seiner Flucht vor den Nazis – ein ebenso unbedingt empfehlenswerter Roman.
Mein größtes und am meisten berührendes literarisches Erlebnis 2022 hatte ich jedoch mit Tschingis Aitmatows „Das Kassandramal“.
Ausgehend von den aktuellen Krisen der Menschheit: Kriege, Klimawandel, nationalistisch-habgierig-machtgeil-narzisstische „Urschreie“, soziale und rassistische Ungerechtigkeit & Co., wird hier die Frage der Anhropodizee pointiert und dramatisch gestellt.
Erschreckend gleich zu Beginn das Naturphänomen eines periodisch immer wieder stattfindenden kollektiven Suizids der Wale, welche Aitmatow als Radar, als Seismograph für den Zustand unserer Erde erkennt, der Wale, die sich versammeln und – scheinbar ohne Motiv – auf Sandbänke werfen, um dort zu verenden. Ein Wake-Up-Call an uns Menschen?
Ein science-fiktional weiteres Phänomen erschüttert in diesem Roman die Welt: Ungeborene Kinder, die sich weigern, auf diese Welt zu kommen, verursachen bei ihren schwangeren Müttern ein Mal auf der Stirn – das Kassandramal als „ein Aufschrei der Evolution“, da „ein neugeborenes Wesen in unserer Welt mit dem Risiko zu rechnen hat, ein Minenfeld zu betreten.
Aber wer kann schon mit dem Finger darauf zeigen, wo sich dieses Minenfeld befindet? Das ist unmöglich. In welchen Lebensbereichen verbirgt es sich? In Gedanken oder in Taten? In Ruhm oder Schande? In den Lehren über die Welt oder in ihrer täglichen Praxis?“ (Tschingis Aitmatow, Das Kassandramal, Unionsverlag Taschenbuch 290, Zürich, 2. Aufl. 2011, S. 196).
Viele beunruhigende Fragen wirft dieser Roman auf. Auch jene, weshalb Menschen in Zeiten wie diesen angefeindet werden, die feststellen: „Der Mensch wird nicht geboren, um Waffen zu produzieren“, die den industriellen „Kult“ ablehnen, „Artgenossen mehrfach töten zu können“ – mündend in der Frage unserer nächsten, womöglich wirklich einer der letzten Filialgenerationen, die Aitmatow wie folgt formuliert:
„Aber wen kümmert schon die ursprüngliche, existentielle Beunruhigung eines jungen Menschen?“ (Tschingis Aitmatow, a.a.O., S. 198)
Meinen SuB halte ich in einer »gesunden« Höhe. Will sagen, das ich ihn noch überblicke, aber etwas Auswahl soll schon immer vorhanden sein. Weniger als 5-6 Bücher im SuB halte ich für kritisch, dann klingelt ein Glöckchen und ruft mich zum Buchhändler meines Vertrauens bzw. ins Antiquariat.
Ich hab zwar erst seit Juno wieder rezensiert, aber das ganze Jahr gelesen. Nur schaffe ich es seit langem nicht mehr, alles Gelesene zu rezensieren und das muß ja auch nicht. Weil ich mir aber zu jedem gelesenen Buch ein paar Notizen mache, kann ich schon noch nachschlagen, was ich so gelesen habe und was wirklich superb war von den rund 100 Büchern, die ich 2022 gelesen habe.
Dazu gehören: Christine Wolter, »Die Alleinseglerin«; 1982 in der DDR erschienen, und im August im Ecco Verlag neu herausgebracht.
Agnar Mykle »Liebe ist eine einsame Sache/Das Lied vom roten Rubin«. Beide Romane sind in den fünfziger Jahren in Norwegen erschienen und sorgten wegen ihres offenen Umgangs mit Sexualität für Skandale.
Giovanni Orelli »Der lange Winter«; ein ungeheuer dichter Text über den Winter und das Sterben Tessiner Bergdörfer. Dann Ketil Bjørnstad, »Die Welt die meine war – Die Achtziger«. Einer der einzigartigen Zeitrückblicke des norwegischen Autors und Jazzmusikers. Schließlich Swetlana Alexijewitsch, »Der Krieg hat kein weibliches Gesicht«; Die bjelorussische Nobelpreisträgerin über weibliche Rotarmistinnen. Und endlich Gusel Jachina, »Wo vielleicht das Leben wartet«. Die große humanistische Erzählung der tatarisch/russischen Autorin über die Hungersnot in den Wolgarepubliken Russlands zu Beginn der zwanziger Jahre des 20. Jhdts.
In unserer Kategorie »weibliches Schreiben« ragte 2022 heraus: Marlen Haushofer, »Eine Handvoll Leben«, Wien 1955. In einer Nacht lässt die Protagonistin ihr Leben an sich vorbeiziehen mit dem Gedanken, ob sie den falschen Weg gegangen ist. Dazu auf jeden Fall Fatma Aydemir, »Dschinns«, München 2022. Das bedeutet Migration als Lebensgeschichte, aber auch Verwirklichung von Träumen?
Was nun Bücher fürs neue Jahr betrifft, da gibts gute Vorsätze, reichlich! Endlich wieder etwas von Shakespeare lesen, aber erst nach den Einführungen von Jenny Farell. Wenn von Ketil Bjørnstad weiteren Zeit-Rückblicken in 2023 nichts auf Deutsch erscheint, versuch ich´s doch auf Norwegisch.
Fürs Sachbuch habe ich schon eine lange Liste, vor allem zum Ukraine Krieg. Aber den finde ich so fürchterlich, dass ich mich eigentlich nicht in meiner Freizeit damit beschäftigen möchte. Aber denke, dass ich eigentlich tun müsste!
Ebenso wie die Literaturliste aus »Treffpunkt Banbury« von E. Panitz über den deutschen Atomspion Klaus Fuchs, der Geheimnisse der Atombombe 1945 bewusst verraten hat, damit nicht ein Land ein Monopol darauf hatte.
Ein bis zwei Sir Walter Scott und Charles Dickens sollten es dieses Jahr schon sein, aber nur die Originaltexte. Das gilt auch für irische Literatur (bisher viel zu wenig gelesen), für Dänische sowieso, einfach um dort im Lesefluss zu bleiben. Mehr nehme ich mir nicht vor, weil Stöbern und aufmerksam umhören immer so schöne Überraschungen bringt.
PS: Was Sandra zum »Kassandramal« von Aitmatow geschrieben hat, kann ich nur unterstützen, auch für mich ein Highlight 2022.