Erwachende Herzen • Colette

Ich verfolge ja die Neuerscheinungen von einigen bei mir sehr beliebten Verlagen immer mit viel Aufmerksamkeit und schreibe hier auch sehr gerne bevorzugt über deren schönen Neuauflagen. Natürlich lese ich auch sehr viele Bücher abseits von diesen schmucken aktuellen Büchern und nachdem ich darauf hingewiesen wurde, dass ich dieser Lektüre hier nicht genug Aufmerksamkeit schenke, möchte ich das natürlich ändern. Es gibt ja zahlreiche Geheimtipps, wunderbare Bücher, die absolut low budget sind, schon angestaubt erscheinen und alt und abgegriffen sind, aber dennoch ihren ganz eigenen Charme versprühen. Meine Ausgabe von Erwachende Herzen von Colette ist so ein Buch, das ich euch heute vorstellen will. Wieder mit einem interessanten Video, denn ich liebe die Kombination aus Buch und Arte Doku und über beides will ich heute schreiben.

Erwachende Herzen handelt von der fünfzehnjährigen Vinca und dem ein Jahr älteren Philippe, die zusammen mit ihren Familien ihren jährlichen Sommerurlaub am Strand der schönen Bretagne unweit von Saint-Malo verbringen. Wie Geschwister haben sie die vergangenen Sommer an diesen wunderschönen und ursprünglichen Gestaden verbracht und zusammen gefischt, die Küstengegend erkundet und zusammen gebadet. Aber der Sommer, den Colette in diesem Buch beschreibt, ändert die Beziehung der beiden zueinander, denn sie stehen an der Schwelle zwischen dem Kind sein und dem Erwachsen werden.

Das Buch umfasst den Sommer von Vinca und Philippe und beschreibt sehr genau die Gefühle und Gedanken von beiden, wie sie aufeinander treffen und wie sich plötzlich ihre Beziehung, auf der Schwelle zum Erwachsenwerden, ändert. Mir hat das sehr gut gefallen, wie Colette diesen jugendlichen Wankelmut beschreibt, wie besonders Philippe als der ein wenig ältere hin- und hergerissen ist, wie er sich überlegen fühlt, aber eigentlich doch noch ein Kind ist. Das ist Colette sehr gut gelungen und auch wenn dieses Buch keine nennenswerte Spannungskurve hat, ist es doch sehr interessant zu sehen, wie sich die Beziehung zwischen den beiden Protagonisten verändert und entwickelt. Die Gedankenwelt und die Art und Weise wie beide agieren und empfinden, das ist hervorragend dargestellt und die Charaktere erscheinen echt und authentisch.

Mit seinen knapp 200 Seiten ist das Buch nicht sehr umfangreich und fällt für mich in eine ganz bestimmte Kategorie, das für mich schon fast ein eigenes Genre ist. Von seiner ganzen Grundstimmung, aber auch von den wunderbaren Landschaftsbildern, die Colette immer wieder einstreut und welche die Gedanken und Gefühle von Vinca und besonders Philippe widerspiegeln und erweitern, hat mich das Buch stark an Keyserlings Wellen erinnert. Auch dort steht die Gedanken und Gefühlswelt der Figuren im Mittelpunkt, werden aber ganz stark von dem Meer und den Stimmungen der Küstenlandschaft getragen und weiterentwickelt. Oder auch Bonjour tristesse geht mit seiner jungen Protagonistin und ihrer Zeit an der Côte d’Azur stark in die selbe Richtung. Es wird keine große Handlung aufgebaut, sondern Menschen mit ihren Gedanken, Gefühlen und Erwartungen werden in einer Situation dargestellt, die ganz für sich einen eigenen Rahmen aufspannt. Als Leser folgt man genau dieser emotionalen Entwicklung, wobei Vinca und Philippe immer unberechenbar bleiben, denn es ist nicht klar, wie sich diese Spannung entlädt, wohin die gemeinsame Beziehung führt und was aus alledem entwächst, weil man sofort spürt, dass es gerade die Feinheiten sind, die hier den Ausschlag geben. Feinheiten, die sich dann aber nicht nur im Denken und Verhalten, sondern auch in den Schilderungen des Meeres, der Sonne, den Düften und der gesamten Vegetation findet.

Das Buch ist in zahlreiche Kapitel unterteilt, wobei ein jedes eine Szene darstellt, was schon fast filmisch wirkt. Colettes Sätze sind angenehm zu lesen, sie formuliert die Gedanken und Gefühle klar, gibt den Formulierungen aber auch immer etwas Poetisches. Das fand ich immer wieder sehr schön zu lesen und habe ich stellenweise sehr genossen.

Und dann verließ sie das Reich der leeren Schatten, um zu Philippe zurückzukehren und mit ihm weiterzuwandern auf dem Wege, wo sie ihre Spur verheimlichten und wo sie – das fühlten beide – wohl zugrunde gehen mochten unter der Last einer zu schweren, zu üppigen, zu früh gewonnenen Beute. (S. 62)

Immer wieder abstrahiert Colette, ich will fast sagen auf balzacschen Art und Weise und verallgemeinert das Verhalten ihrer Figuren. Wenn so etwas gut gelingt, ist das natürlich immer großes Kino.

Sie verstummte, und Philippe bemerkte unterhalb der blauen Pupillen, ganz oben auf der kindlichen Wange der Freundin, einen Perlmutterglanz, eine Furche – Spuren von Schlaflosigkeit und nächtlichen Tränen – jenen seidigen, mondlichtfarbenen Schein, wie ihn die Lider der Frauen zeigen, die ihr Leid im verborgenen tragen. (S. 152)

Ich habe das Buch schon länger umkreist. Ausschlaggebend für einen Kauf war aber schließlich eine Artedoku über die Autorin. Und ich konnte mich noch gut an die Kombination aus Buch und Doku von Austers Roman erinnern. Und so habe ich mir natürlich gleich im Anschluss an die Lektüre die dazugehörige Artedoku über Colette angesehen. Da wir hier leider in der Steinzeit leben, wo man sich mit diesem seltsamen komischen Neuland-Dings noch sehr schwer tut, ist das Video leider nicht mehr verfügbar, denn bei Arte werden Videos ja nur zeitlich begrenzt angeboten. Aber wer Arte kennt weiß, dass es früher oder später wieder in der Mediathek auftaucht.

Die Doku fand ich wieder sehr spannend, alleine schon wegen der vielen Bilder aus der Belle Époque. Colette war eine ziemliche Skandalnudel und es ist faszinierend ihr Leben in einer so schön gemachten Doku zusammengefasst zu sehen. Sie war ein sinnlicher Mensch und strebte in ihrem Leben nach Freiheit und Selbstbestimmung. Sie hatte zahlreiche Männer und Frauen und hatte auch beruflich ein bewegtes Leben, war in der Halbwelt unterwegs und als sie ihren Mann verlassen hatte, ging sie zum Varieté. Sie war später aber auch journalistisch tätig und hat ihr ganzes Leben immer wieder geschrieben. Bekannt wurde sie mit ihren Claudine Romanen, welche in biografischen Stil das Leben einer jungen Frau schildert. Die Bücher erschienen 1900 bis 1903 noch unter dem Namen von ihrem untreuen Mann, der sie zu vermarkten verstand und seine Frau ordentlich ausnutzte. Colettes bekanntester Roman war Chéri, der eine Beziehung zwischen einem jungen Mann und einer älteren Frau beschreibt. Zu dem Zeitpunkt unterhielt Colette eine Beziehung mit ihrem erheblich jüngeren Stiefsohn und daher war ihr das Thema sehr vertraut. Erwachende Herzen erschien 1923 und auch darin findet man dieses Sujet angedeutet, wenn auch nicht im Mittelpunkt der Geschichte. Besonders die Sinnlichkeit der Autorin, welche laut der Doku ihre Mutter in ihrer schönen Kindheit begründet hat, ist in Erwachende Herzen ganz deutlich wiederzufinden. Eben gerade mit ihrem Blick fürs Detail und für die Natur, welche die Protagonisten umgibt und einrahmt, wie ein prächtiger Rahmen die Wirkung eines Bildes verstärkt. Zusammenfassend kann man sagen, dass Colette ein bewegtes Künstlerleben hatte. Skandalös, freizügig aber wohl literarisch auch immer mit Tiefgang und ich glaube, ich werde mir noch ein paar Bücher von ihr holen, wenn auch alle Ausgaben von ihren Büchern echt ranzig und alt sind. Seltsam, dass ihre Romane nicht neu aufgelegt werden.

Das Buch selbst hat mich mit Versand keine zwei Euros gekostet. Mit seinem Leineneinband und der Fadenbindung ist das fast 65 Jahre alte Buch in einem ordentlichen Zustand, wenn auch etwas ausgeblichen. Eine ISBN Nummer gab es damals noch nicht und von dem Verlag habe ich noch nie etwas gehört. Aber von der Gestaltung ist es ganz gut gelungen, mit seiner schlichten Illustration auf dem Einband, die einfach sehr gut passt. Die Übersetzung liest sich manchmal etwas altbacken, aber insgesamt sehr flüssig, also da kann man auch nichts sagen.

Fazit: Colettes Roman Erwachende Herzen ist ein sehr schöner Roman, der einfühlsam und mit einem klaren und poetischen Stil das Erwachsenwerden porträtiert. Dabei verbindet sie ihre Protagonisten immer mit ihrem Umfeld, der wunderschönen Küstenregion der Bretagne und vermengt ihre Gedanken und Emotionen mit den Eindrücken der Landschaft und Natur. Ein Buch, das auf diese Weise immer einen Bezug zum Meer hat, was mir einfach immer wieder gut gefällt. Ein schöner kurzweiliger Roman, mit authentischen Figuren, den ich sehr empfehlen kann.

Buchinformation: Erwachende Herzen • Colette • Deutsche Buch-Gemeinschaft Berlin und Darmstadt • 193 Seiten • Ausgabe aus dem Jahr 1955 • Übersetzt von S. Neumann

4 Kommentare

  1. „Die Übersetzung liest sich manchmal etwas altbacken, aber insgesamt sehr flüssig, also da kann man auch nichts sagen“

    Also ich fand die Übersetzung durchgehend altbacken bis irritierend. Es gibt eine Neuübersetzung von 2008 (St. Neumann, Manesse Vlg), aber die kostet gebraucht mindestens 13 Euro.

    1. Lieber Henrik,

      ach so schlimm habe ich es nicht in Erinnerung. Aber ich hab auch schon einige alte Bücher gelesen und ich mag so eine etwas altbackene Sprache ganz gerne. Das ist schon auch immer stimmungsvoll. Wie fandst Du das Buch sonst? Ich habe den Roman schon gut in Erinnerung und hätte schon Lust noch mehr von Colette zu lesen.

      Herzliche Grüße
      Tobi

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