Die Arbeiter des Meeres • Victor Hugo

Wie viele von euch bereits wissen, bin ich ein Mare Klassiker Fanboy und warte schon jedes Mal auf die Vorschau um zu sehen, was für ein neues Buch in der von mir geliebten Reihe wohl diesmal ums Eck kommt. Diesmal ist es gleich ein doppelter Treffer: Wie immer ein wunderschönes Buch in Leineneinband mit schicken Schuber und obendrein auch noch ein neu übersetzter Roman von Victor Hugo. In Bayern würde man nun sagen „des is a gmahde Wiesn“. Klar dass dieses Buch sofort nach Erhalt gelesen wird und der restliche Stapel erst einmal warten muss. Nachdem ich die letzten Wochen wieder ziemlich viel im Fantasy Genre unterwegs war, habe ich auch wieder so richtig Lust auf das Meer und einen richtig geschmeidigen Klassiker aus der Feder eines der großen Legenden der Literatur.

Victor Hugo, ein französischer Autor, dessen Bücher der Romantik und dem Realismus zugeordnet werden, lebte von 1802 bis 1885, veröffentlichte Gedichte, Romane und Dramen und war auch politisch sehr aktiv. 1851 hat er sich gegen Napoléon aufgelehnt (Napoleon III., Napoléon le Petit, also nicht der richtige Waterloo-Kaiser-Oberknaller-Krieg-und-Frieden-Napoléon) und ging ins Exil. Dazu hat er sich die zu England gehörenden, französischsprachigen Kanalinseln, zuerst Jersey, dann Guernsey ausgesucht.

Die Insel Guernsey ist auch der Handlungsort von Die Arbeiter des Meeres. Der Fischer Gilliatt, ein Außenseiter und etwas seltsamer Eigenbrödler verliebt sich in die schöne Déruchette. Eine junge Frau aus gutem Hause, bei der er eigentlich keine Chance hätte. Doch dann bietet sich ihm eine Gelegenheit, um ihre Liebe zu erringen. Anders als man nun vermuten würde, nicht indem er um sie wirbt, sondern in einem Kampf gegen das Meer, in einem zähen Ringen mit den Naturgewalten.

Wie schon bei Die Elenden geht Victor Hugo sehr systematisch vor und charakterisiert zuerst die einzelnen Personen recht genau. Ausführlich, aber unterhaltsam, mit dem Blick fürs Detail und mit einer ihm typischen Hingabe. Die Personen erscheinen einem sofort glaubhaft und real. Man erfährt einiges über die Insel Guernsey und über ihre abergläubischen und etwas hinterwäldlerischen Bewohner. Ganz typisch, wie man es an einem abgeschiedenen Ort erwarten würde. Aber auch wieder irgendwie verlockend, denn solche Inseln wecken in mir immer eine Sehnsucht nach dem Meer und die Ruhe die solchen Orten immer innewohnt. Dabei dreht Hugo aber auch wieder richtig auf. Wie schon Jean Valjean sind auch Charaktere wie Gilliatt, Mess Lethierry oder Sieur Clubin ein wenig überzeichnet, überhöht und sehr markant. Ein Umstand, der hier wieder sehr stimmig ist und gut passt, was besonders im weiteren Verlauf der Geschichte deutlich wird.

Relativ schnell bin ich in dieses Buch und seine Orte eingetaucht und konnte mir die Insel Guernsey sehr gut vorstellen. Was aber das Buch zu einem echten Meisterwerk macht, ist das Meer. Ich wüsste nicht, welcher Roman besser in die Klassiker Reihe vom Mare Verlag passen würde, als dieses hier. Gilliatt beginnt einen Kampf gegen das Meer und wird dabei zum Titan, zum Helden, wächst über sich selbst hinaus und stellt sich jeder Prüfung, die der Ozean für ihn bereit hält. Hugo stellt das Meer so real dar, erweckt es mit seinen Beschreibungen auf eine Art und Weise zum Leben, wie ich es in Büchern bisher nur selten angetroffen habe. Mit einem Blick fürs Detail, aber auch für das große Ganze. Ob es die dunklen Wolken einer Unwetterfront sind, ein dichter, geheimnisvoller Nebel, die dunklen Granitfelsen vor der Küste der Kanalinseln, das Wasser selbst, alles ist vor meinem geistigen Auge zum Leben erwacht und war so deutlich sichtbar, als ob ich einen Film sehen würde.

Sprachlich habe ich etwas in Richtung Die Elenden erwartet: lange, ausladende Sätze im typischen Romantikerstil. Das Gegenteil ist der Fall. Gerade wenn es um die Bewohner der Insel oder um Gilliatt geht, sind seine Sätze kurz und wirken sehr klar, deutlich und einfach. Ein wenig war ich zuerst enttäuscht, um dann festzustellen, dass Hugo dies als Stilmittel nutzt. Denn wenn es um das Meer geht, um die Natur und um das, was Hugo darin findet, dann werden auch seine Sätze wieder so prachtvoll, wie man es sich nur wünschen kann. Mit seiner ganz eigenen Poesie. Ein recht langes Zitat will ich anführen: Gilliatt entdeckt auf einer einsamen Felsengruppe eine wunderschöne kleine Grotte und beschreibt ihr Aussehen, aber auch den Zauber, den dieser Ort in sich birgt:

„Man konnte nicht umhin, sich in diese Krypta, auf diesen Altarsockel ein nacktes himmlisches Wesen zu träumen, das, in ewigem Nachdenken begriffen, vom Eintritt eines Menschen zum Verschwinden gebracht wurde. Es war kaum möglich, sich keine Erscheinung in diese feierliche Zelle hineinzudenken; durch Träumerei hervorgerufen, erstand sie ganz von selbst: kaum erkennbare Schultern, von einem keuschen Licht überrieselt; eine Stirn, in Morgenlicht gebadet; das Oval eines olympischen Antlitzes; Rundungen geheimnisvoller Brüste; schamhaft verschränkte Arme; das Haar gelöst in der Morgenröte; unbeschreibliche Hüften, die sich bleich in einem heiligen Dunst abzeichnen – kurzum: eine Nymphengestalt mit dem Blick einer Jungfrau, eine Venus, dem Meer entsteigend, eine Eva, dem Chaos entsteigend – dergleichen Traumgebilde drängten sich hier einfach auf. Es war unwahrscheinlich, dass es solche Phantome hier nicht gab, dass nicht gerade eben eine gänzlich nackte Schönheit, einen Stern in sich tragend, auf diesem Altar gestanden hatte. Auf diesem Piedestal, von dem eine unsägliche Entzückung ausging, sah man in der Vorstellung ein weißes, lebendiges Wesen thronen. Man sah im Geist, inmitten der schweigenden Anbetung dieser Höhle, eine Amphitrite, eine Tethys oder eine liebesmächtige Diana, Verkörperung eines Ideals, aus einem Sonnenstrahl geboren und den Schatten mit Nachsicht betrachtend.“ (S. 312)

Das Buch lässt sich angenehm lesen und Hugo bedient sich zahlreicher Vergleiche aus der griechischen, römischen und biblischen Mythologie. Auch die vielen nautischen Begriffe und Beschreibungen wirken sehr positiv auf die Stimmung, auch wenn ich dann über einige Beschreibungen, die zu sehr ins Detail gingen, einfach hinweg gelesen habe. Aber das waren nur sehr wenige Passagen. Grundsätzlich nimmt sich Hugo aber Zeit und so war ich immer gespannt, wie die Geschichte weitergehen würde, gleichzeitig wagt er kapitelweise Ausflüge und beschreibt dann auch recht ausführlich Orte, Menschen oder auch philosophische und metaphysische Gedanken. Sinniert über das Universum, über die Naturgewalten oder über den Glauben. Oder er zählt auf zwei Seiten die verschiedensten Winde auf, die es im Volksmund, Wissenschaft und auf der Welt gibt. Mir hat das alles sehr gut gefallen und mich sehr zum Träumen gebracht.

Die Arbeiter des Meeres ist das, was Moby Dick hätte sein können. Genau die richtige Balance zwischen einer Geschichte, die voran schreitet, fesselt und den Leser auf eine ganz eigentümliche Art anrührt, aber auch der Blick über das Einfache und Sichtbare hinaus. Eine Beschreibung dieser Insel, der Natur und des Meeres mit all seinen Eigenschaften. Ob nun Hugo mit all seinen Beschreibungen so korrekt liegt, steht auf einem anderen Blatt. Manchmal hatte ich den Eindruck, er versucht alle Beschaffenheiten zu begründen und zu unterlegen. Ich hab ihn das alles irgendwie abgenommen und das Lesevergnügen, das ich dabei empfunden habe, gibt ihm in jedem Fall Recht.

Natürlich will ich wieder ein wenig zu der Ausgabe vom Mare Verlag sagen. An der Stelle möchte ich auf jeden Fall allen Mare Mitarbeitern danken. Dafür, dass sie solche Bücher machen, diese Schätze entdecken und neu verpacken und mit so viel Sorgfalt und Hingabe zugänglich machen. Ich weiß nicht, ob euch klar ist, was für ein Genuss eure Klassiker für mich sind und ich hoffe ja auch für andere, so dass die Reihe so schnell kein Ende finden wird. Genussvoller könnten die Stunden nicht sein, die ich mit euren Büchern verbringe.

Auch diesmal hält man hier wieder ein sehr schmuckes und wertiges Buch in Händen. Der Leineneinband erinnert an die dunklen, mit Algen bewachsenen Felsen oder das mit Algen durchsetzte Meer im Ärmelkanal. Die großen Buchstaben auf dem Buch haben dabei eine klare Bedeutung, die im Buch wieder zu finden ist. Victor Hugo setzt sich dabei selbst ein Denkmal und gibt den Felsen von Douvres die Form seiner Initialen, die hier auch auf dem Einband zu finden sind. Die dunklen Felsen inmitten des Meeres. Auch das Papier ist wieder angenehm geschmeidig und die Fadenbindung zeigt, dass man hier wieder Premium-Buchkunst in den Händen hält.

Die eigentliche Geschichte umfasst 524 Seiten. Darauf folgend findet man wieder einen ausführlichen Anhang. Einmal Anmerkungen zu den Text mit Erläuterungen zu einzelnen Begriffen. Dann ein Nachwort vom Übersetzer Rainer G. Schmidt, dass ich ganz informativ fand, aber keine wirklichen neuen Erkenntnisse enthält. Schließlich, und das ist der größte Teil, zahlreiche Texte von Hugo über das Archipel der Kanalinseln. Diese hat er in einer Ausgabe dem eigentlichen Roman vorangestellt, um sozusagen das Setting komplett abzustecken. Ich fand die Texte für sich eher langweilig. Der eigentliche Roman vermittelt einen sehr guten Eindruck von den Orten und der Landschaft, kombiniert das aber mit der spannenden Geschichte.

Fazit: Der Roman Die Arbeiter des Meeres ist ein gelungenes Meisterwerk von einem der größten Autoren aller Zeiten. Die Beschreibungen des Meeres, der Menschen, dieser kleinen Insel und die vielen Exkursionen in die Welt der Nautik, der Philosophie, der Natur und der menschlichen Seele, alles wird hier eindrucksvoll in Szene gesetzt, erscheint wie ein Film vor dem geistigen Auge und kommt mit einer Wortgewalt, die auch noch einige Zeit nach der Lektüre wirkt. Eine Geschichte, die mich gepackt und nachdenklich zurückgelassen hat. Die wunderschöne Ausgabe vom Mare Verlag kann ich uneingeschränkt weiterempfehlen. Ein wundervolles Buch.

Buchinformation: Die Arbeiter des Meeres • Victor Hugo • mare Verlag • 672 Seiten • ISBN 9783866482548

15 Kommentare

  1. Lieber Tobi,
    ich würde dir an dieser Stelle gerne einen ausführlichen Kommentar hinterlassen. Aber Fakt ist: Mir fehlen einfach die Worte. Hugo und das Meer sind schon mal zwei Kriterien, die mich sofort ins Schwärmen geraten lassen. Tja, und dann kannst du dieses Werk auch noch empfehlen und machst Lust aufs Entdecken. Ich will jetzt einfach nur den Mare-Verlag plündern 😀

    1. Liebe Kathrin,

      also das Buch könnte dir auch echt gut gefallen. Victor Hugo und dazu die schöne Aufmachung, da sind wir ja beide auf einer Wellenlänge. Der Mare Verlag ist einfach klasse, die haben einfach echte Knaller im Programm. Hast du eigentlich auch „Ein Leben“ von Maupassant schon gelesen? Das gibt es auch beim Mare Verlag und das ist auch einfach nur ein geniales Buch. Das kann ich dir auch sehr empfehlen.

      Liebe Grüße
      Tobi

      1. „Ein Leben“ habe ich mir noch nicht gegönnt. In „Die Arbeiter des Meeres“ habe ich auf der Buchmesse ausgiebig geblätter – optisch und haptisch wirklich toll gemacht! In den hiesigen Buchhandlungen sind die Bücher des Mare Verlags leider nie zu finden, daher habe ich hier eine kleine Titelliste und werde irgendwann einmal eine Sammelbestellung beim Verlag machen. 😉

  2. Lieber Tobi,

    Victor Hugo steht auch schon sehr lange bei mir rum, hab ausführlich überlegt, ob ich nun „Vom Winde verweht“ oder „Die Elenden“ als nächstes Schmökerbuch beginne. Naja, da ich gerade aber auch im Studium in Amerikas Westen des 17/18 Jhs unterwegs bin, ist es dann doch ersteres geworden 😉 Muss dich wieder mal loben, für die tolle Rezension, man liest einfach heraus, dass du 1. das Meer sehr magst und Hugo und 3. dass du sehr angetan bist vom MARE Verlag 😀 Ich mag auch sehr gerne Bücher mit dem Thema Meer, es weckt immer eine gewisse Sehnsucht beim Lesen, und ich mag das! Lass dir ganz liebe Grüße da 😉 In Bayern war ich auch neulich unterwegs ^^ Als Österreicherin kommt man sich da gar nicht einmal so fremd vor 😉

    1. Liebe Tinka,

      Victor Hugo ist klasse, da gibt es nichts. „Vom Winde verweht“ habe ich auch auf meinem SuB und das ist schon auch ziemlich weit nach oben gerutscht. Das kommt bald dran. „Die Elenden“ kann ich dir auch echt empfehlen, ein klasse Buch. Aber darüber hab ich auch schon gebloggt.

      Das Meer ist etwas, auf das ich immer wieder Lust habe. Genauso wie Liebesgeschichten. Und wenn einige Zeit vergeht, dann greife ich zu solch einem Buch und das ist dann immer wieder echt ein ganz besonderer Genuss.

      Wo warst du denn in Bayern unterwegs? In München? Also in Österreich kommt man sich als Bajuware auch nicht sonderlich fremd vor. Aber ist ja auch gleich ums Eck 😉

      Liebe Grüße
      Tobi

  3. Toller Tipp, tolle Rezi. Hatte ich noch nie von gehört. Du kannst nicht zufällig was über die Übersetzung sagen (bei „neu übersetzt“ klingeln immer meine Alarmglocken)? Meinen herzlichen Dank!

    1. Lieber Simon,

      also ich habe keinen Vergleich, was die Übersetzung betrifft, aber bei dem Buch fällt nichts negativ auf. Es liest sich geschmeidig und es gibt keine seltsamen unpassenden Worte oder Namen. Der Mare Verlag ist aber diesbezüglich immer ziemlich hochwertig unterwegs. Ich hab über die beiden Bücher von Maupassant in der Vergangenheit gebloggt und da hatten andere Leser mit anderen Ausgaben recht negative Erfahrungen gemacht, die ich bei den Ausgaben vom Mare Verlag nicht ausmachen konnte. Da wurde dann beispielsweise der Name der Protagonistin seltsam eingedeutscht oder so. Das hast du bei diesen Büchern hier definitiv nicht. Aber dafür muss man auch tiefer in die Tasche greifen.

      Ich hoffe das Buch ist was für Dich und gefällt dir genauso gut wie mir. Aber Victor Hugo, das Meer, Mare Verlag, mehr braucht man da nicht zu sagen 😉

      Liebe Grüße
      Tobi

  4. Lieber Tobi,
    das klingt wirklich wunderbar & sehr interessant – deine Rezension ist mal wieder sehr überzeugend. Ich glaube, den Roman möchte ich auch gern lesen! Nicht zuletzt, weil ich auch gerade wieder Sehnsucht nach Meer habe …
    Liebe Grüße
    Petra

    1. Liebe Petra,

      das Buch gefällt Dir bestimmt. Ich hab bei der Lektüre richtig Lust auf Reisen bekommen. Ich liebe ja Inseln und hätte echt Lust auf den Kanalinseln mal zu sein. So Tage wie heute, wenn es wärmer ist, aber ein ziemlicher Wind weht, da weckt das bei mir auch die Sehnsucht nach dem Meer. Da sind dann solche Bücher immer perfekt.

      Liebe Grüße
      Tobi

  5. Eine sehr schöne Buchvorstellung. Aber selbst einem ausgezeichneten Blogger wie Dir unterläuft es, auf den Klappentext (bzw. den Text auf dem Schuber) hereinzufallen: Gilliat ist *kein* Fischer. Hugo bzw. der auktoriale Erzähler macht es ganz klar, dass er von seiner Mutter ein kleines Häuschen geerbt hat und genug Geld, um davon (wenn auch karg) leben zu können. Er übt deshalb keinen Beruf aus, auch wenn er regelmässig auf dem Meer ist und wohl auch hin und wieder fischt.

    Ebenso wenig ist es übrigen Gilliat, der die Grotte schildert. (Wem sollte er sie schildern? Er ist alleine dort.) Sondern es ist der Erzähler, der die Grotte für uns Leser und Leserinnen schildert.

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